4. Juni 2014 um 14:57
Über das Büro von Marie Luise Beck (MdB, Grüne) erreicht uns dieser Brief. Er macht betroffen und rüttelt auf.
(Arbeitsübersetzung)
An die deutsche Öffentlichkeit!
Wir wenden uns heute an Sie als Vertreter der Initiativgruppe des Forums der odessitischen Intelligenz. Unsere Stadt wird in diesem September 220 Jahre alt. Vom ersten Tag ihrer Existenz an war sie eine wahre europäische Stadt. Nach einem Erlass der aufgeklärten russischen Kaiserin Katharina der II., die bekanntlich im Briefwechsel mit Voltaire stand, wurde Odessa als eine Stadt des Handels, der Wissenschaft und der Kunst gegründet und von Anfang von Europäern besiedelt. Neben Russen, Ukrainern und Juden lebten dort Franzosen, Italiener, Deutsche, Griechen, Polen und Vertreter anderer zivilisierter Nationen, und trugen gemeinsam zu ihrer Blüte bei. Spricht man über die Rolle der Deutschen in der Geschichte unserer Stadt, so trägt einer der Stadtbezirke, in dem die deutschen Siedler wohnten, nach wie vor den Namen „Lustdorf“. Eine der Straßen Odessas wird von einer prächtigen, frisch restaurierten deutschen Kirche geschmückt.
Nun zu unserem eigentlichen Anliegen. Wir, Vertreter der Kultur, der Wissenschaft und Wirtschaft, sind geeint in dem Wunsch, in Europa und der Welt gehört zu werden. Innig teilen wir die Ideen des Kiewer Euromaidans und träumen davon, dass unser Land frei und demokratisch ist und prosperiert. Aufrichtig möchten wir uns deshalb an Sie wenden. Wie Sie wissen, haben Ende des letzten und Anfang dieses Jahres auf dem Maidan in Kiew duzende Menschen ihr Leben und hunderte weitere ihre Gesundheit im Kampf gegen das durch und durch korrumpierte und kriminelle Regime Janukowitsch und für die Idee von Europa als eine Gemeinschaft der Gerechtigkeit und des Gesetzes gelassen. Und als wir Ukrainer, nach so vielen Opfern, unseren Wunsch geäußert haben, zur europäischen Familie zu gehören, versetzte uns Putin einen unerwarteten Schlag. Die Existenz der Ukraine als solche ist bedroht. Wir sind nur einen Schritt von einem Krieg auf dem europäischen Kontinent entfernt.
Und genau in diesem Moment fühlen wir uns leider vom mächtigen Deutschland – dem Motor und Ideengeber der Europäischen Union – im Stich gelassen. Anstatt eindeutiger Unterstützung des Landes, das mit Blut und Schmerz zu den Idealen der Demokratie strebt, beobachten wir mit Enttäuschung und Unverständnis äußerst widersprüchliche Signale Ihrer Regierung und intellektuellen Elite. Diese können oft als explizite oder implizite Unterstützung des Aggressors, des Putin-Regimes interpretiert werden.
Der putinschen Propaganda zufolge sind alle Ukrainer, die die Ideale des Euromaidan vertreten, Faschisten und Antisemiten. Aber sagen Sie, sieht unser Forum, zu dem Intellektuelle, Künstler, Musiker, Dichter und Geschäftsleute gehören, wirklich wie ein Haufen Faschisten aus? Fast die Hälfte von uns sind Juden. Wie können wir da Antisemiten sein?
Einige deutsche Intellektuelle vertreten eine scheinbar „neutrale, ausgewogene Position“, die beiden Seiten des Konflikts kritisiert. Unter näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass diese Position bei weitem nicht neutral ist.
Besonders fragwürdig erscheint uns die Behauptung mancher Vertreter Ihrer Elite, die derzeitige Krise sei das Ergebnis einer jahrelangen politischen „Erniedrigung“ Russlands durch den Westen und einer fehlenden Bereitschaft, Russland als Teil Europas zu sehen.
Aber wenn wir den aktuellen Konflikt betrachten, so hat gerade die Ukraine mit ihrem Euromaidan, der unter zahlreichen Opfern in der Revolution für die europäischen Werte mündete, ihr aufrichtiges Streben nach Europa bewiesen. Die unverhohlene und beispiellose Aggression Russlands ist Ausdruck einer überheblichen Haltung, dem ukrainischen Volk seinen Traum in die große europäische Familie aufgenommen zu werden zu verwehren. Russland hat sich hingegen als ein Staat erwiesen, der seit der näheren Vergangenheit die Ablehnung europäischer Werte zum Prinzip erhoben hat. Im natürlichen Streben der Ukraine nach Europa sieht es eine Bedrohung für sein totalitäres, praktisch bereits diktatorisches Regime. Diese ideologische „Bedrohung“ ist anscheinend so mächtig und für Russland so gefährlich, dass es offensichtlich bereit ist, unser Land in seinem eigenen Blut zu ertränken und damit diese freie Entscheidung des ukrainischen Volkes zu verhindern.
Die Behauptung, der Westen habe Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht geholfen, ist zumindest unfair. Zu Beginn der 1990er Jahre hat die umfangreiche finanzielle Unterstützung des Westens den Bankrott Russlands verhindert. Russland wurde in die G8 und die WTO aufgenommen und hat in all diesen Jahren eng mit der Weltbank, dem IWF und der NATO zusammengearbeitet. Mit dem Budapester Memorandum hat sich die Ukraine zur Abgabe ihres Nuklearwaffenarsenals (des drittgrößten der Welt!) verpflichtet. Als Gegenleistung erhielt sie ausschließlich die Zusicherung ihrer territorialen Integrität. Wie sich nun herausstellt, hat diese Geste des guten Willens der Ukraine keine Sicherheit, die durch die Vertragsstaaten garantiert werde sollte, gebracht. Russland hingegen hat strategisch und militärisch aufgerüstet.
Einige deutsche Politiker vertreten die Meinung, dass die Ost-Erweiterung der NATO bis zur Grenze Russlands es in die Lage trieb, sich verteidigen zu müssen. Gegen wen sollte sich Russland verteidigen? Gegen das friedliche und demokratische Europa, das Krieg als Mittel zur Konfliktlösung ausschließt?
Nach der Annexion der Krim hat Russland im Osten der Ukraine einen Krieg mittels Geheimoperationen und Sabotageaktionen angezettelt, wobei täglich Menschen ihr Leben verlieren. Unter der Parole „Anschluss an Russland“ werden die Regionen Donbass und Lugansk, in denen sieben Millionen Menschen leben, in Chaos und totale Anarchie gestürzt. Präsident Putin erklärt öffentlich, dass er es nicht für richtig halte, dass der Süden und Osten unseres Landes zur Ukraine gehören. Praktisch handelt es sich dabei aber um die Hälfte des Landes! Das schrecklichste aber ist, dass sich Präsident Putin, wie Sie wissen, vom russischen Parlament die Erlaubnis für militärische Interventionen im kompletten Staatsgebiet der Ukraine erbeten und sie unverzüglich erhalten hat.
Käme es zu einer solchen Invasion, wäre das zugleich ein Krieg gegen europäische und demokratische Werte und gegen die Existenz der Ukraine als ein souveräner Staat.
Es gibt zahlreiche unumstößliche Beweise dafür, dass sich in den Gebieten Donezk und Lugansk das Krim-Szenario wiederholt. Anfänglich wurden Verwaltungsgebäude von bewaffneten Personen aus Russland oder unter Führung russischer Militärs besetzt und kurz darauf überstürzte Referenden durchgeführt, deren Ziel die schleichende Einverleibung ukrainischen Staatsgebiets durch Russland ist. Der einzige Unterschied zwischen den Entwicklungen auf der Krim und denen in der Ostukraine besteht darin, dass die Ukraine im Fall der Krim eine beispiellose Zurückhaltung bewiesen hat, um ein Blutvergießen zu vermeiden. Als die Ukraine sich aber damit konfrontiert sah, dass sich die Aggression im Osten des Landes fortsetzt, hat sie begonnen, sich entsprechend zu verteidigen, so, wie es JEDER ANDERE Staat der Welt auch getan hätte. Die ukrainische Armee kämpft im Osten des Landes nicht gegen die eigene russischsprachige Bevölkerung, sondern gegen bestens ausgerüstete subversive Einheiten unter der Führung russischer Geheimdienste, die die friedliche russischsprachige Bevölkerung von Donbass und Lugansk terrorisieren.
Die Einteilung der ukrainischen Gesellschaft in ein ukrainisch- und ein russischsprachiges Lager, die sich entsprechend jeweils nach Europa, respektive nach Russland orientieren würden, ist oberflächlich und falsch. Die oppositionellen Aktivisten auf dem Maidan sprachen beide Sprachen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in den russischsprachigen südöstlichen Gebieten der Ukraine – den Regionen Odessa, Nikolajew, Cherson, Saporischschja, Charkiw und Dnepropetrowsk – ist ausdrücklich gegen eine russische Besetzung oder eine Abspaltung unseres Staatsgebiets von der Ukraine.
Das ukrainische Volk hat in junger Vergangenheit durch Hungersnot und den Einfall Nazideutschlands millionenfache Opfer erlitten. Heute wenden wir uns an Sie mit der Bitte um Hilfe. Stellen Sie die historische Gerechtigkeit wieder her! Es lässt sich nicht leugnen, dass die furchtbare Tragödie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über uns hereingebrochen ist, von Deutschland ausging. Es wäre schön, wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts Unterstützung von dort erführen. Es steht in Ihrer Macht, Einfluss auf das Putin-Regime zu nehmen und eine weitere schreckliche Tragödie von dem ukrainischen Volk abzuwenden. Lassen Sie nicht zu, dass die Ukraine als unabhängiger Staat von der Landkarte verschwindet.
Odessa, 27. Mai 2014
Die Koordinatoren des Forums:
Alexei Botwinow, Pianist und Regisseur
Alexandr Roitburd, Künstler
Jewgeni Demenok, Mäzen und Schriftsteller
Mitglieder der Initiativgruppe des Forums:
Igor Gusjew, Künstler
Alexandr Dobrojer, Soziologe und Journalist
Oksana Dowgopolowa, Philosophin, Professorin der Universität Odessa
Witali Oplatschko, Geschäftsmann
Walerij Chait, Schriftsteller
Boris Chersonski, Dichter
Quelle: Horst Klaeuser auf Facebook
Pingback: Odessas Künstler und Intellektuelle schreiben an Deutschland - Israel Foreign Affairs
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Für Deutsche, die dieser Tage nicht selbst in Odessa, auf der Krim oder im Donbass waren, ist es schwierig sich aufgrund von Medienberichten ein halbwegs objektives Bild der Situation zu machen. Die Tatsache, dass von der RF-Führunge eine enorme Aggression gegenüber der Ukraine durch Okkupierung der Krim, Medienpropaganda und Terrorunterstützung ausgeht, kann nur mit Realitätsverleugnung ignoriert werden. Auch in Deutschland leben Feiglinge und unsensible Menschen, die sich sonst an schwächere Menschen vergreifen würden, um an ihnen ihre negativen Empfindungen abzureagieren, doch weil dieses Handeln gesetzlich unter Strafe steht, wird beispielsweise das Internet dazu missbraucht, um auf Kosten der vermeintlich wehrlosen Ukraine und seinem Volk geistige Umweltverschmutzung zu betreiben. Bei aller überdurchschnittlichen Sensibiliät von ukrainischen Künstlern und Intellektuellen, müssen Ihre Befürchtungen deutlicher bzw. substantieller geäußert werden, weil der deutsche Hilfeansatz sonst nicht klar genug erkennbar ist. Zweifelsohne, bringen die pro-russischen Terroristen auf dem Staatsgebiet der Ukraine (einschließlich der Krim) ein derzeit unabsehbares Gewaltpotential zur Entfaltung, doch sollten andererseits die wirksame Anti-Terror-Operation (ATO) durch ukrainisches Militär und Nationalgarde, Sanktionen durch EU und USA, wirtschaftliche und politische Unterstützung seitens zahlloser UN-Mitgliedsstaaten wie auch der eigene starke Wille des ukrainischen Volkes zur Freiheit und Unabhängikeit, bei der Einschätzung der Lage mit einbezogen werden. Eins steht fest: Kommt es in der Ukraine zu einem offenen Krieg, gehen auch in Deutschland die Lichter aus!
Слава Україні! – Героям слава!
Deutschland unterstützt die Ukraine, könnte sie aber noch mehr unterstützen. Das offizielle Russland genießt dagegen in Deutschland fast keine Sympathien mehr. In einer repräsentativen Umfrage des Allensbach-Institutes in der “Frankfurter Allgemeinen” gaben nur 8% der Befragten an, dass sie “Putin vertrauen”. Ja , es gibt ein paar wenige Russland -Sympathisanten in Deutschland, z.B. in der Partei “Die Linke” und bei wenigen Rechtsextremen. Doch solche antidemokratischen Kräfte gibt es in jedem Land.
Aber auch abseits der Politik hat die Ukraine in Deutschland Interesse geweckt. Ich selbst , ein ganz normaler deutscher Bürger, beschäftigte mich bis zum Euromaidan kaum mit der Ukraine. Erst jetzt nehme ich die Ukraine als bewundernswerte Nation wahr, die einen schweren Kampf um Freiheit und Demokratie zu bestehen hat. Ich verfolge jetzt täglich die Geschehnisse dort. Neben all den Schwierigkeiten nehme ich die Ukraine aber auch als interessantes Kulturland wahr. Ich bin ich über die Schönheit vieler ukrainischer Städte (Lemberg, Kiew, Odessa) und die kulturelle Vielfalt ganz begeistert. Ich werde die Ukraine sicherlich als Tourist besuchen.
Das größere Problem bei uns ist die AfD, die ebenfalls einen klaren Pro-Putin-Kurs fährt. Und von der sich nach einer heute IIRC auf Welt Online veröffentlichen Umfrage rund die Hälfte der Bürger wünschen würden, dass sie im Parlament vertreten ist, wenngleich sie noch nur ca. 8% tatsächlich wählen würden. Das Problem ist hier das Gemeinse-Feind-eint-Syndrom, weil man mit der EU ein Problem hat, geht man statt dem schweren Weg (durch politsiches Engagement die EU zu verbessern) einfach den einfachen und verbündet man sich mit dem erklärten Gegner der EU. Einige tun das aus Naivität und sehen einfach nicht, wo sie da hingearaten, andere tun es vermutet aus vollkommener Absicht. Russland führt essentiell Krieg gegen die Ukraine, weil der “Abfall” der Ukraine von Russland das Projekt der Eurasischen Union torpediert, das Putin zu einem autoritären antiliberalen Gegenmodell der EU aufbauen will. Und genau da will auch die AfD hin. Weg von der transatlantischen Partenrschaft, hin zum Nationalstaat, der sich auf wirtschaftliche Weise “stärker an Russland orientiert”, vulgo, sich in die Fänge der russischen auf Korruption basierenden Abhängigkeitspolitik begibt. Und ein nicht geringer Teil der deutschen Wirtschaft findet das gut so. Insofern ist die Ukraine nicht nur ein bedauernswertes Land, das einen schweren Kampf für sich selber zu bestehen hat, sondern sie steht mitten im Brennpunkt der Zukunft Europas und kämpft den Kampf um ein freies Europa nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle!
Den letzten Satz ist völlig richtig, der Kampf der Ukraine betrifft uns alle.
Als echten Gegner der europäischen Einigung und der Integration der Ukraine in Europa sehe ich eher die Partei “Die Linke”, bei der in Teilen ein echter Sowjetnostalgismus herrscht.
Betreff AfD: Die AfD ist sehr heterogen und viele Anhänger (teils echte Querulanten) projizieren alle möglichen Wünsche auf diese neue Partei.Das wird für die AfD noch problematisch werden.
Im Parteiprogram der AfD (gerade ergoogelt) steht aber auch:
“Die AfD tritt für eine “Westbindung Deutschlands” ein. Die Mitgliedschaft in der NATO gewährleistet sicherheitspolitisch unsere Freiheit und verschafft uns die Möglichkeit, außenpolitisch unsere eigenen Interessen zu wahren. Wir respektieren die bestehenden internationalen Verträge und werden den vereinbarten Bündnisverpflichtungen im Rahmen des Verteidigungsauftrages des Grundgesetzes nachkommen.”
Deshalb bin ich über die AfD nicht ganz so besorgt wie über für mich völlig undiskutable Erscheinungen wie Marie Le Pen, die tatsächlich ein Gefahr für Europa und Frankreich darstellt.
Die Ukraine ist kein bedauerns- sondern ein bewundernswertes Land.
Fleißige und strebsame Menschen, die auch “Halt!” sagen können.
Ich bin schon in Kyjiv, L’viv und Zaporizhzhja gewesen. Faszinierend!
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Guter Beitrag. Ich lebe in Odessa und kann die Argumentation nachvollziehen.