Halya Coynash – Charkiwer Menschenrechtsgruppe – 27. Juli 2014
Wenn ein Strafverfahren gegen eine Pilotin, die von Aufständischen in einem Land gefangen genommen und sich dann ernsten strafrechtlichen Vorwürfe in einem anderen ausgesetzt sieht und im Gefängnis eingesperrt ist, drängen sich unausweichlich Fragen auf. Russland kann bis heute nicht glaubwürdig erklären, wie es dazu kam, dass Nadeschda Sawtschenko in russischer Haft gehalten wird und der Beteiligung an den Todesfällen eines russischen Journalisten und Kameramanns angeklagt wurde. Satt dessen benutzt Russland zweifelhafte Taktiken, um sicherzustellen, dass diese Fragen entweder nicht gestellt oder nicht gehört werden. Nicht zum ersten Mal wird dem russischen Fernsehen eine Schlüsselrolle zugewiesen.
Ein Gericht in Woronesch hat am 25. Juli Sawtschenkos Berufung gegen die Gerichtsentscheidung über die Verlängerung der Untersuchungshaft bis zum 31. August. zurückgewiesen. Wahrscheinlich wird sie bald in das Lefortowo-Gefängnis in Moskau verlegt werden. Der Richter ließ sich von der Tatsache nicht beeindrucken, dass der ursprüngliche gerichtliche Haftbefehl sowie die Unterlagen der Ermittler die Donbas-Region in der Ukraine als “das Gebiet der Donezker und Luhansker Volksrepubliken” bezeichnet. Letztere sind durch vom Kreml unterstützte Kämpfer “selbst ernannte” Republiken”, die selbst von Russland nicht offiziell anerkannt sind.
Es ist wahrscheinlich, dass der Grund für einen derartig vielsagenden Fehler beim “Untersuchungsausschuss Russlands” [der Strafermittlungsbehörde] liegt, welcher seit vielen Monaten “strafrechtliche Ermittlungen” mit einer deutlichen politischen Neigung eingeleitet hat. Die fraglichen Dokumente beziehen sich auf eine Reihe von seit dem 30. Mai eröffneten Fällen, darunter solche, in denen russische Journalisten nach Ansicht der Ukraine aufgrund von nicht inakzeptablen Aktivitäten festgenommen und deportiert oder nach Russlands Lesart ‘entführt’ worden waren.
Die Verteidigung hatte darauf bestanden, dass Sawtschenko zum Gericht gebracht wird und die Anhörung öffentlich sein wird. Letzteres wurde zugestanden, aber es gab nur eine Video-Übertragung mit Sawtschenko aus ihrer Zelle. Die Anwälte beantragten einen “Austausch der Dolmetscher, dies wurde abgelehnt, obwohl es eindeutige Gründe für die Besorgnis gab, dass Sawtschenkos Worte falsch übersetzt wurden. Sawtschenko sagte zum Beispiel, dass sie aus der Ukraine entführt wurde, was so übersetzt wurde, dass sie in der Ukraine aufgegriffen worden sei.
Die ukrainische Konsul durfte Sawtschenko erst nach zahlreichen Versuchen sehen, und darf sie jetzt nicht noch einmal besuchen. Das könnte dadurch begründet sein, weil er ihre Darstellung, wie sie mit einem Sack über dem Kopf und in Handschellen nach Russland entführt wurde, veröffentlich hat. Der Vorwand ist jedoch, dass Sawtschenko bereits zweimal Besuch hatte und pro Monat nur zwei Besuche erlaubt sind.
Die angebliche “Besuch” war der eines LifeNews-Journalisten, dem der Ermittlungsbeamte ein Interview erlaubt hat.
Die redigierte Abschrift ist nach wie vor auf der Website des Kanals unter dem Titel: “Die Aufständischen haben die malaysische Boeing nicht abgeschossen.” LifeNews führte ein Exklusiv-Interview mit einer Frau, die an einer Strafoperation in der Ukraine teilgenommen hat und sich jetzt im Untersuchungsgefängnis von Woronesch befindet.”
Wie schon während ihrer Vernehmung durch die Militanten, die sie am 18. Juni gefangen genommen hatten, gibt sich Sawtschenko nicht kleinlaut und lehnt alle Vorwürfe, sie hätte in irgendeiner Weise an der Tötung von unbewaffneten Journalisten mitgewirkt, vehement ab. Es gibt keinen Anlass, bestimmte Teile des Interviews genauer zu analysieren, da es sehr wahrscheinlich ist, dass das Video äußerst sorgfältig bearbeitet wurde. In dem Interview gibt es nur eine verdächtig kurze Passage über ihre Entführung und wie sie nach Russland kam. Selbst Sawtschenkos angebliche Zweifel, ob die Militanten das Flugzeugen hätten abschießen können, kommt erst nach einem Monat ihrer Haft – zuerst durch die Militanten und dann in Russland. Sie hätte sich ja in den letzten Wochen allenfalls über russischen TV-Kanäle informiert haben können, deren Verzerrung der Informationen über den Abschuss des Flugzeugs MH17 weltweit Schlagzeilen gemacht hat.
Selbst mit der manipulativen Bearbeitung schafft Sawtschenko es noch, einen sehr guten Eindruck zu machen. Vielleicht aus diesem Grund brachte LifeNews noch ein anderes “exklusives” Interview, dieses Mal von Wladimir Markin vom Untersuchungsausschuss. Dieses trägt den Titel “Sawtschenko lebte zwei Wochen lang in Russland, bevor sie festgenommen wurde,” und beginnt mit der Behauptung der Moderatorin, Sawtschenko habe sich bei der Verhaftung “auf ihre Brust geschlagen” und zugegeben,” ja, ich tötete sie, ich habe sie getötet,” und habe nun ihre Aussage geändert. Schon der Tonfall des Interviewers macht deutlich, dass das Publikum alle Leugnungen der Schuld als Versuch sehen solle, dass sie sich aus den Schwierigkeiten winden wollte. Markin wird zugeschaltet und behauptet, dass Sawtschenko sich an jedem Punkt widerspricht “wie man sehen kann”. In wirklichkeit kann man nichts derartiges sehen, und es gibt keinen Beweis, dass Sawtschenko jemals “gestanden” habe.
Markin behauptet zuerst, Sawtschenko habe weit mehr getan als einfach nur auf den Verbleib der Journalisten hinzuweisen. Auf die Frage nach mehr Details rudert er aber zurück und sagt, dass andere Anklagepunkte noch untersucht würden. Er behauptet, dass Sawtschenko schon zwei Wochen in Russland gewesen sei und nicht wisse, “wie sie aus ihrer Haft bei den militanten Entführern entkommen” sei. Sie sei damals, so behauptet er, in einem Taxi mit einem Tarnanzug bekleidet festgenommen worden. Er kann sich nicht daran erinnern, warum die Polizeistreife den Wagen angehalten habe, vielleicht habe sie ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt gehabt. Er behauptet, sie habe ausgesagt, sie sei ein Flüchtling und sei aus der Ukraine geflüchtet, da sie nicht mit der Politik der neuen Regierung einverstanden gewesen sei.
LifeNews ist hier stark fokussiert, da es sich ja um “Exklusiv”-Interviews handelt. Die Linie ist diejenige, die von den russischen Behörden vorgestellt wird und auf allen gängigen russischen Medien in gleicher Manier berichtet wird. Russen und die Ukrainer in denjenigen Teilen der östlichen Ukraine, die noch unter Kontrolle der Militanten sind, haben kaum eine Chance zu verstehen, wie sehr sie in die Irre geführt werden.
Leider ist nichts davon wirklich neu. Zwei linke Aktivisten, Sergej Udalzow und Leonid Raswostschajew, wurden in der vergangenen Woche von einem Moskauer Gericht wegen der “Organisation von Massenunruhen” vom 6. Mai 2012 verurteilt. Im Oktober dieses Jahres entführten die russischen Behörden Raswostschajew aus Kyiw, wo er Asyl beantragt hatte, und nahmen ihn mit nach Moskau. Die gegen die beiden Männer vorgebrachten Anklagen entstammen alle den Vorwürfen, die sie in einer skandalösen “Dokumentation” mit dem Titel “Anatomie des Protests” auf NTV “erhoben” haben soll – ohne jede Bestätigung oder Identifizierung der sie vorbringenden Person.
Die Entführung im Jahr 2012 geschah noch unter dem ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem stillschweigenden Einverständnis der ukrainischen Behörden. Diese Zeiten sind vorbei. Sawtschenko ist Ukrainerin, wurde von den Kämpfern gefangen genommen und gegen ihren Willen den Russen übergeben und steht nun unter Anklagen, von denen kein einziger Anklagepunkt haltbar erscheint. Die Fragen, die die russischen Ermittler nicht beantworten können, müssen dringend gestellt werden – öffentlich und laut. Und dies sollte nicht aufhören, bis Nadeschda Sawtschenko freigelassen wird und zurück in der Ukraine ist.
Muss man sich jetzt nicht ernsthaft fragen, ob das Betreten des Hoheitsgebiets der RF und der völkerrechtswidrig annektierten Krim, zum derzeitigen Stand der Dinge ein Risiko ungeahnten Ausmaßes darstellt? Die Art und Weise, wie international anerkannte Justizstandards im Fall Nadja Sawtschenkos ignorant übergangen und ihre Inhaftierung medienmäßig von der RF missbraucht werden, zeugt nach meiner Meinung von Menschenrechtsverletzungen in hohem Ausmaß. Eine klare Angelegenheit für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte!
Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Ukraine beim Fernsehkanal 1 und 1
http://tsn.ua/video/video-novini/rolik-na-pidtrimku-nadiyi-savchenko-nimeckoyu-movoyu.html
(auf Deutsch)
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