Die Gefahr des Faschismus, oder: ein Weimarer Szenario in Russland

Die tiefste Wurzel des Faschismus liegt in der Diskreditierung der formalen Institutionen aufgrund ihrer Nichtübereinstimmung mit den alltäglichen Praktiken.

Modisch gekleidete Damen in Weimardeutschland (Foto: hemlinequarterly.wordpress.com)

Modisch gekleidete Damen in Weimardeutschland (Foto: hemlinequarterly.wordpress.com)

Im politischen Diskurs in Russland erlebt das Wort „Faschismus“ und davon abgeleitete Wörter eine gewisse Mode. Kein Diskurs über die extreme Rechte kommt ohne Erwähnung des Faschismusbegriffs aus. Auch in Gesprächen über die Ukraine wird häufig auf Faschismus Bezug genommen. Als unsichtbarer Verweis ist der Faschismus in jedem St.-Georgs-Band, in jedem der häufig auf Autos zu findenden Schriftzüge „Nach Berlin!“ präsent. Dabei wird eine Quelle von Faschismus außer Acht gelassen, die es ihm erlauben kann, just im heutigen Russland aufzublühen. Und das ist das Unvermögen der formalen Institutionen, den Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen.

Die zurückgewiesenen Institutionen

Institutionen, so schreib Douglas North in Institutions, Institutional Change and Economic Performance, setzen den allgemeinen Rahmen für die Interaktion der Menschen, d. h., sie geben die Spielregeln vor. Das Spiel kann von uns als unser eigenes Spiel (ein Spiel, dessen Regeln klar sind) oder als fremdes Spiel wahrgenommen werden, an dem wir erzwungenermaßen teilnehmen. Alles hängt von dem Verhältnis der formalen Institutionen und der alltäglichen Praxis ab – ob sie verwandt sind oder einander widersprechen. Unverständliche formale Institutionen werden früher oder später zurückgewiesen. Niemand spielt gern ein fremdes Spiel. Offenkundig findet im kontemporären Russland gerade sowohl in der Innenpolitik (Demokratie) als auch in der Außenpolitik (zwischenstaatliche Verträge und internationale Rechtsnormen) eine Zurückweisung der Spielregeln statt.

Die Prinzipien von Wählbarkeit und Gewaltenteilung, vom Primat des Rechts blieben losgelöst von den alltäglichen Erfahrungen der russischen Bürger (siehe Can Democracy Take Root in Post-Soviet Russia?). Doch wo hätten diese denn Demokratie lernen sollen? Familie, Schule, Universität, Arbeitsplatz und politische Parteien sind alle von autoritären Elementen durchdrungen. Daher rühren die Versuche, die Demokratie zunächst an die russischen Realitäten anzupassen („souveräne Demokratie“) und dann sich ganz von ihr zu verabschieden – zugunsten einer besser vertrauten Zentralisierung der Macht auf allen Ebenen, von der Familie bis zum Kreml.

In der Außenpolitik hängt die Zurückweisung der formalen Institutionen mit der fehlenden Bereitschaft der Bevölkerung und der Eliten zusammen, sich mit dem postimperialen Status des Landes zufriedenzugeben. Unter solchen Bedingungen sind internationale Rechtsnormen, die für nichtimperiale Gebilde geschrieben sind, nicht länger hilfreich, sondern verhindern die Realisierung von Außenpolitik. Und ein Hindernis wird entweder umgangen, oder man versucht, es zu zerstören. Schlussendlich wurden die formalen Institutionen der Innenpolitik und der Außenpolitik zurückgewiesen, weil sie nicht den gewohnten Praktiken und den Vorstellungen der Politiker und der gewöhnlichen Menschen davon entsprachen, wie alles sein soll, damit es „gerecht ist“.

Wer die Spielregeln nicht akzeptiert, verlässt entweder das Spielfeld (er spielt nicht mit), oder er versucht, den anderen Spielern seine eigenen Spielregeln aufzuzwängen. Mit letztgenannter Alternative hängen auch die Hauptrisiken der weiteren Entwicklung der Situation in Russland zusammen. Jedem, der sich mit den ursprünglich vorgegebenen Spielregeln einverstanden erklärt hatte (der inländischen Opposition und den nächsten Nachbarn), wird de facto vorgeschlagen, ein anderes Spiel zu spielen. Daher auch die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung der Ereignisse nach einem Weimarer Szenario: eines Aufdrängens alternativer Spielregeln mithilfe von Gewalt.

Der Schatten von Weimar

Die Weimarer Republik existierte vergleichsweise kurz ¬– von 1919 bis 1933. Sie war eine Alternative zu dem Projekt einer sozialistischen Revolution westlich der Grenzen Russlands. Nachdem Versuche, in Europa Arbeiter- und Bauernstaaten zu errichten, gescheitert waren, galt die Weimarer Sozialdemokratie als „vernünftiger Kompromiss“ zwischen einer Revolution und der Beibehaltung des Status quo. Die Weimarer Republik markierte gleichzeitig die erstmalige Existenz eines vereinigten Deutschlands. Nach dem Auseinanderfallen Österreich-Ungarns war auf der Landkarte Europas ein neues Imperium entstanden. Dieses Imperium hörte mit der Machtergreifung Hitlers auf zu existieren. Es hatte stark und schön begonnen, es zeichnete sich durch eine Blüte der Kunst (Weimar wurde zur Heimat des Dadaismus) und der Medien (erstmals wird Rundfunk zu Unterhaltungszwecken ausgestrahlt) aus, doch es endete überaus schlimm – im Faschismus.

Aufgrund bestimmter Analogien zwischen Weimardeutschland und dem postsowjetischen Russland ist das Interesse an der Weimarer Periode in Russland besonders groß. Auch das postsowjetische Russland ist ein Produkt eines Verzichts auf eine revolutionäre Entwicklung (Ende der 1980-er und Anfang der 1990-er war die Lage im Land revolutionär). Doch eine echte Revolution fand im Jahr 1991 nicht statt. Anstelle des verschwundenen sowjetischen Imperiums wurde Schritt für Schritt ein neues Imperium wiederhergestellt, das neurussische. Seine Maßstäbe sind mit den sowjetischen nicht zu vergleichen, doch das Prinzip ist dasselbe.

Die Gefahr eines Weimarer Szenarios für Russland erwähnte als einer der Ersten Alexander Janow (Posle El’cina: «Vejmarskaâ» Rossiâ, 1995): die innere Schwäche des Imperiums, multipliziert mit der Schwäche der demokratischen Institutionen, stellte er als Kernkomponente einer explosiven Mischung dar. Während der „fetten“ Nullerjahre geriet das Gerede von einem Weimarer Szenario in Vergessenheit. Das Imperium stand nun auf eigenen Beinen. Die souveräne Demokratie hatte Fuß gefasst. Kunst und Sport blühten auf.

Gewaltsame Änderung der Spielregeln

War Janow mit seiner Warnung seiner Zeit voraus? Passt sie nicht gerade heute, 20 Jahre später, viel besser? Das postsowjetische Russland existiert nun schon länger als einst die Weimarer Republik. Eine für einen faschistischen Umsturz günstige politische Situation kann sich innerhalb weniger Jahre ergeben, aber für die Reifung grundlegenderer Bedingungen für die Entstehung von Faschismus braucht es Jahrzehnte.

Die Weimarer Republik entstand nach der Niederlage Preußens im Ersten Weltkrieg. Die Bedingungen des Versailler Vertrags waren unvorteilhaft für das Land, dabei hatte es sich nur in der Erwartung einer „Gesichtswahrung“ auf die Kapitulation eingelassen. Die Niederlage der UdSSR im Kalten Krieg spielt in der Geschichte des postsowjetischen Russlands eine analoge Rolle. Formell hat es keine Kapitulation gegeben, doch der Supermachtstatus war verloren. Auch das Verhältnis der anderen Länder zu Russland und der formale Status auf der internationalen Arena änderten sich: Russland war nicht länger ein Imperium, es war ein gewöhnliches Land.

Zur Enttäuschung über den Bedingungen der „Nachkriegs“-Welt muss man die Enttäuschung von der Demokratie hinzuzählen. Genau wie in Weimardeutschland hat die Demokratie auch bei uns (in Russland) „nicht funktioniert“. Im Deutschland der Weimarer Zeit wurde Demokratie mit Inflation, häufigen Regierungswechseln und unerwarteten politischen Bündnissen (Sozialdemokraten und Konservative) assoziiert. In Russland mit dem „Liebreiz“ der „wilden 90-er“. Aufmerksame Beobachter des kontemporären Russlands können sich Sloterdijks Beobachtungen über Weimardeutschland anschließen: „Überall lag das bittere Gefühl des Betrogenseins in der Luft des Neubeginns“ (Kritik der zynischen Vernunft).

Just im Gegensatz zwischen den formalen Institutionen und den alltäglichen Praktiken und Vorstellungen sieht Sloterdijk die tiefste Wurzel des Faschismus. Unter solchen Bedingungen kann die Macht nicht durch in der Verfassung und in internationalen Verträgen festgelegte Mittel gerechtfertigt werden. Denn diese formalen Institutionen waren letztlich nicht verstanden und nicht angenommen worden! Weder von der Regierung, noch von der Bevölkerung. Faschismus, so schreibt Sloterdijk, sagt sich los von jeglichem Versuch, sich irgendwie zu legitimieren, und erklärt Brutalität und „heiligen Egoismus“ offen zur politischen Notwendigkeit und zum historisch-politischen Gesetz. Nationalismus ist unter solchen Bedingungen eines der Mittel zur Zurückweisung der formalen Institutionen (Demokratie und internationale Verträge), welche als fremd und von außen übergestülpt empfunden werden.

Faschismus als soziale Erscheinung bezeichnet das Unvermögen, die eigenen Interessen gegenüber der Umgebung anders als durch Einsatz von Gewalt durchzusetzen. Er verbreitet sich parallel mit der Negation der in der Innen- und Außenpolitik bestehenden formalen Institutionen. Faschismus ist, wenn die Diskussion am wichtigsten Punkt beendet wird und die Waffen sprechen. Dass Russland in der Außenpolitik auf Gewalt setzt, hat sich zunächst während des Konflikts in Südossetien und jetzt in der Ukraine gezeigt. Seine Interessen und seine Bereitschaft, diese mit Gewalt durchzusetzen, hat Russland zunächst etwas schüchtern erklärt – es versteckte die Erkennungszeichen auf den Uniformen der Soldaten und dem Kriegsgerät –, doch es erklärt sie zunehmend offen.

Die Wahl von Gewalt als Mittel in der Innenpolitik befindet sich momentan im Stadium des Versuchs, die offenkundige Bereitschaft zu Repressionen verschämt mit einem Feigenblatt zu bedecken. Sollte die Unzufriedenheit in der Gesellschaft weiter steigen – was angesichts der ökonomischen Krise mehr als wahrscheinlich ist –, wird das Feigenblatt fallen gelassen werden. Die Gewalt wird ihren repressiven Apparat (Polizei und Gerichte) offen einsetzen, um sich, wie Sloterdijk schrieb, an dem zu rächen, von dem sie weiß, dass er sie niemals respektieren wird, sondern dem Popanz für alle Zeiten zuruft: „Legitimiere dich oder du wirst überwunden.“

Wenn diese Hypothese wahr ist, sind es möglicherweise nicht die Rechtsextremen, die den Faschismus nach Russland bringen. Er könnte vielmehr von gewöhnlichen Bürgern und Regierungsbeamten wiedergeboren werden, die des Halts in einem Verständnis und einer Akzeptanz der formalen Institutionen der Innen- und Außenpolitik als „eigenes Spiel“ beraubt sind. Aus diesem Grund hat das faschistische Projekt, genau wie in Weimardeutschland, in Russland heute Chancen auf Unterstützung durch die Mehrheit. Es wird wohl kaum das Wort „Faschismus“ in seinem Namen führen. Aber Hitler bezeichnete sich schließlich auch nicht als Faschist.

Der Autor ist Dozent an der Memorial University (Kanada) und leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralen ökonomisch-mathematischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Anton Olejnik, vedomosti.ru, 13.02.2015

Aus dem Russischen von: Tobias Ernst – Fachtexte vom Profi. Wiedergabe der Übersetzung nur unter Nennung des Übersetzers.

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2 Responses to Die Gefahr des Faschismus, oder: ein Weimarer Szenario in Russland

  1. Pingback: Hitler bezeichnete sich auch nicht als Faschist | Voices of Ukraine

  2. justice says:

    Nach Meinung sind Arbeiter- und Bauernstaaten die geistigen Auswüchse von Denkprozessen brutaler Subjekte, deren Sensibilität und Weltsicht stark zu wünschen übrig lässt.

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