Wie mache ich einen ukrainischen Atomunfall? Teil 2: Fakten, Fakten, Fakten

Wie mache ich einen ukrainischen Atomunfall?
Teil 2: Fakten, Fakten, Fakten

von Dr. Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland

Zum angeblichen „Atomunfall“ im KKW Zaporizhzhja, Block 3, sagte mir ein befreundeter Ingenieur, ein studierter Physiker mit 30 Jahren Berufserfahrung in einem der ukrainischen Kernkraftwerke, ein paar interessante Sätze. Sie möchte ich, als Ergänzung zu meinem blog von gestern, meinen LeserInnen nicht vorenthalten.

„Was da kaputtgegangen ist im KKW Zaporizhzhja“, meint er, „war ein 6 kV/0,4 kV-Eigenbedarfstransformator. So etwas kommt vor und ist kein Anlass zur Beunruhigung; die defekte Komponente wird ausgetauscht. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, dass zum selben Zeitpunkt, wo wir uns hier mit der ungeplanten Abschaltung von Zaporizhzhja-3 beschäftigen, 29 ukrainische Kohlekraftwerksblöcke außer Betrieb sind“ – weil ihnen kriegsbedingt, möchte ich hinzufügen, der Brennstoff fehlt. Alle anderen, sehr ernsten Implikationen für die ukrainische Energieversorgung habe ich gestern in o.a. blog geschildert.

Für alle Liebhaber von Details sei an dieser Stelle nochmal erklärt, was für einen Stellenwert solch ein „Ereignis Stufe Null“ (so ist die offizielle Einstufung in der IAEA-Skala INES) in einem Kernkraftwerk hat. Jedes Kraftwerk produziert seinen Eigenbedarfsstrom – also das, was Pumpenmotoren und sonstige Antriebe und elektrische Maschinen in der Anlage brauchen – in der Regel selbst. Um ihn nutzen zu können, muss er von der Spannungsebene des Generators auf jene Spannungsebenen heruntertransformiert werden, die von den Verbrauchern im Kraftwerk benötigt werden. In den ukrainischen und russischen Kernkraftwerken ist das die 6 kV- Eigenbedarfsschiene, von der dann wiederum auf 0,4 kV (also 400 Volt) transformiert wird. Der besagte Trafo steht im Schaltanlagengebäude, es gibt auch weitere für die Umwandlung auf die 220 V-Niederspannung der üblichen Kleinverbraucher   Beleuchtung zum Beispiel, oder die fürs Schichtpersonal überlebenswichtigen Kaffeemaschinen und Teewasserkocher für das Heißgetränk auf Arbeit.

Gibt es einen Defekt in so einer elektrischen „Sektion“ 6/0,4 kV, sprechen die Sicherheitssysteme an – „Zashchita“ heißt das im Original des Schadensberichts –, und der Block wird automatisch abgefahren. Die genannten elektrischen Systeme sind redundant, das heißt, die Stromversorgung für die Verbraucher im Block ist gesichert, aber bis zur Reparatur des Defekts muss die Anlage vom Netz. Mit dem nuklearen Teil der Anlage hat so etwas technisch nichts zu tun – diese Komponenten gibt es in jedem Kraftwerk. Natürlich aber gibt es eine Interdependenz von „konventionellem“ und „nuklearem“ Teil insofern, als auch die Antriebe im nuklearen Teil natürlich von einer funktionierenden Stromversorgung abhängen. Deswegen ist diese Versorgung redundant und räumlich getrennt organisiert, und für eine sichere Unterkritikalität des Reaktors sorgende Abschaltsysteme sind so ausgelegt, dass sie bei Stromausfall in die „sichere“ Richtung reagieren. So fallen die Absorberstäbe der Gravitation folgend in den Reaktorkern, wenn ihre Stromversorgung gekappt wird.

Das Problem ist aber nun in der öffentlichen Diskussion, und auch in einem Großteil der Berichterstattung, dass die Berichterstatter in der Regel über wenig technische Grundkenntnisse verfügen – und wenn sie sich dessen bewusst werden, dann auch noch häufig einzig und allein Greenpeace als „Experten“ zur Rate ziehen. Häufig werden die Funktionsbereiche in einem Kernkraftwerk durcheinandergebracht und daher ein elektrischer Defekt zu einem „Atomunfall“ gemacht, d.h. es wird durch die Wortwahl suggeriert, es handele sich um einen Störfall im Reaktor oder Primärkreislauf der Anlage. Zweitens wird häufig das Ansprechen der Sicherheitssysteme, das zu einer Reaktorschnellabschaltung führt, bereits als Beweis für die Unzuverlässigkeit der Anlagen wahrgenommen – d.h. der Beweis, dass die Sicherheitsvorkehrungen reibungslos funktionieren, wird dem Gesamtsystem zu Ungunsten ausgelegt, weil man der irrigen Vorstellung folgt, in der Kerntechnik sei nur dann etwas sicher, wenn Defekte zu 100 % ausschließbar seien.

Kommt dann auch noch das Catchword „Ukraine“ hinzu, dann ist als Ergebnis der Schnittmenge sofort „Tschernobyl“ im Kopf, und auch deswegen landen wir ganz schnell wieder beim „Atomunfall“. Folglich ist die Meldung vom ukrainischen „Atomunfall“ in Zaporizhzhja eigentlich keine Meldung, sondern ein Symptom für eine spezifische Wahrnehmungsstruktur und -kultur hierzulande. Diese Meldung sagt mehr über uns Deutsche aus als über die Ukraine oder die ukrainische Kerntechnik, die übrigens, wie die russische, wesentlich besser ist als ihr Ruf beim deutschen Laien. Sie hat nichts mehr gemeinsam hat mit der Technologie von Tschernobyl Stand 1986 – die aber ohnehin eine ganz andere ist als jene der in Zaporizhzhja und anderswo eingesetzten Druckwasserreaktoren. Gemeinsame europäisch-ukrainische Projekte auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit sind in ukrainischen Kernkraftwerken seit Jahren Routine, auch ohne EU-Assoziation.

Das Land Ukraine trägt jedoch bei uns an einer doppelten Hypothek – als Ukraine, und als Land, in dem 50 Prozent – momentan wesentlich mehr – des Stroms aus Kernkraftwerken kommen. Für die meisten Deutschen ist es immer noch eine Black Box mit bedrohlichem Inhalt. Es gibt dort Tschernobyl und folglich denkt das Volk an gefährliche Atomkraftwerke. Das Land steht in den Augen vieler einfach im Weg herum – zum Beispiel im Weg sicherer und günstiger Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland, oder im Weg lukrativer Geschäfte unserer Wirtschaft mit den russischen Partnern. Die Ukraine und ihre BürgerInnen werden in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung mit Schwarzarbeit, Prostitution und nun auch noch mit Revolte und Instabilität assoziiert. Und jetzt sollen wir auch noch viel Geld für diese Leute und dieses schwarze Loch und diese vermeintlich maroden Atomkraftwerke zahlen? Soll doch Russland besser Ordnung schaffen – oder, wie Matthias Platzeck und das Deutsch-Russische Forum sagen würden, Stabilität.

Meldungen wie die vom „Atomunfall“ treffen auf einen wohlbereiteten deutschen Nährboden des Misstrauens und des Vorurteils, der, nebenbei gesagt, auch von der Moskauer „Informations“politik nach Kräften beackert wird. Dagegen helfen nur: Fakten, Fakten, Fakten. Physik. Ratio. Und auch wenn’s schwerfällt im Energiewendeland, das vermeint, alles besser zu wissen: dies gilt auch für ukrainische Kernkraftwerke.

Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Historikerin mit Schwerpunkt Stadt- und Technikgeschichte, zur Zeit Vertretung der wissenschaftlichen Leitung des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg.

Quelle: Anno Veronika Wendland auf Facebook

Lesen Sie auch:
Wie mache ich einen ukrainischen Atomumfall? Teil 1: Die Deutschen, die Kernenergie und die Situation in der Ukraine

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1 Response to Wie mache ich einen ukrainischen Atomunfall? Teil 2: Fakten, Fakten, Fakten

  1. justice says:

    Danke, Frau Dr. Wendland!

    So liest sich die vertrauenswürdige Darstellung einer echten Expertin.

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