Putins drei Hauptziele in der Ukraine

Kreml-Herrscher nutzt Ukraine als Experimentallabor, um die Russen ruhigzustellen

Lilija Schewtsowa, russische Politologin, habilitierte Historikerin, leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin im Moskauer Carnegie-Zentrum

Dr. Lilija Schewtsowa, russ. Politologin, Historikerin, leitende wiss. Mitarbeiterin im Moskauer Carnegie-Zentrum

Die Geschichte mit der Ukraine war für Putin kein Selbstzweck. Zwar gibt es sowohl in Russland als auch in der Welt und selbst in der Ukraine die Meinung, dass alles mit der Ukraine angefangen habe. Doch das ist nicht so. Alles begann im Jahr 2011, als die Menschen auf dem Bolotnaja-Platz und dem Sacharow-Prospekt auf die Straßen gingen. Nach diesen Ereignissen verwandte Putin, kaum wieder an die Macht gekommen, d. h. in den Jahren 2012 und 2013, all seine Energie auf die Errichtung eines neuen politischen Regimes. Und da Putin Angst hatte, dass, wenn man den Russen noch auch nur einen halben Schritt erlauben würde, nicht 300 000, sondern 3 Millionen Menschen auf den Bolotnaja-Platz kommen würden, schuf er ein ausschließlich repressives Regime.

Er liquidierte alle Artikel in der Verfassung, die den Russen Raum zu freiem Atmen ließen. Ende 2013 war das nicht mehr das alte Russland, sondern ein neues autoritäres Regime mit ersten Neigungen zu Absolutismus und Bonapartismus. Und da geschah der Maidan, der die Ukraine für ihn in eine Plattform verwandelte, an der er das von ihm geschaffene neue Regime ausprobieren konnte. Er hielt einen Vorschlaghammer in Händen, holte weit aus zum Schlag aus, doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich Russland bereits beruhigt. Die Leute saßen wieder zu Hause hinter dem Herd, hatten Angst, und die Gefangenen der Bolotnaja-Bewegung saßen hinter Gittern. Die Minderheit war demoralisiert. Und Putin hatte keinen Anlass mehr, seinen Vorschlaghammer anzuwenden. Und da geht der Maidan los – auf ihn konnte er seinen Vorschlaghammer herniedersausen lassen. In erster Linie tat er dies, um in Russland derartige Maidane nicht zuzulassen. Das war Putins Ziel Nummer eins.

Das zweite Ziel: Die Ukraine war für ihn schon lang kein Staat mehr, sondern ein innenpolitischer Faktor, bereits 2004. Damals kam er zu spät, es gelang ihm nicht, und doch betrachtete er schon damals die Ukraine als Teil des russischen Leibes. Deswegen gaben der neue Maidan und der darauffolgende Sturz Janukowitschs den Anstoß.

Die Ukraine ist ein Laboratorium, das Putin benutzt, um Russland ruhig zu stellen. Die russische Innenpolitik ist für ihn wichtiger, als irgendwelche expansionistischen Ziele. Putins Aufgabe ist es, keinen Maidan in Russland zuzulassen.

Außerdem haben wir es mit einem nicht besonders gut gebildeten Menschen zu tun. Putin hat offenbar irgendwelche zweifelhaften Geschichtsbücher gelesen und daraus für sich den Schluss gezogen: Wenn die Ukraine sich aus seiner Umklammerung löst, verliert Russland seine Grundlage, seine historische Legitimation. Denn Russland hat unter all seinen Zaren, Generalsekretären, postsowjetischen Ländern seine Geschichtsschreibung immer auf Kiew zurückgeführt. Ihr, die Ukrainer, nehmt uns die Kiewer Rus weg, versteht ihr? Ihr nehmt den Russen die tausendjährige Legitimation von Christenheit und Russischem Staat weg. Und das alles ist viel wichtiger, als das expansionistische Russland.

Der dritte Faktor: Putin hat verstanden, dass er im heutigen Russland, in dem alle Probleme ihren kritischen Punkt erreichen, wo die Wirtschaft zusammenbricht und das Volk unzufrieden ist, nur dann herrschen kann, wenn er die Fenster schließt, die Türen zubetoniert und die russische Bevölkerung mit kriegerisch-patriotischer Rhetorik mobilisiert.

Die Sache ist die, Putin liebt man in Russland nicht – die offenen Putinisten machen nur 15 bis 17 % aus. Doch indem er die Krim annektierte, schwor er sie auf sich ein, versetzte Russland in den Kriegszustand und machte sich zum Präsidenten in Kriegszeiten. Daraus jetzt noch auszubrechen ist für ihn ein Ding der Unmöglichkeit.

Quelle: Lilija Schewtsowa via Nowoe Wremja
Aus dem Russen von: Tobias Ernst – Fachtexte vom Profi

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