Aufruf polnischer Intellektueller an die europäischen Bürger und Regierungen

Am 1. September 1939 griff Nazideutschland Polen an (Foto: [swissmacky]/Shutterstock)

Am 1. September 1939 griff Nazideutschland Polen an (Foto: [swissmacky]/Shutterstock)

erschienen auf euractiv.fr
1. September 2014
Übersetzung von Voices of Ukraine

“Für Danzig sterben!” Dieser Spruch symbolisiert die Haltung von Westeuropa angesichts des Krieges, der vor 75 Jahren ausbrach. Frankreich und Großbritannien gaben dem deutschen Diktator drei Mal grünes Licht. Weder der Anschluss [Österreichs] und die Besetzung des Sudetenlandes noch die Auflösung der Tschechoslowakei hatten für Hitler und seinen Staat schwerwiegende Folgen. Und als am 1. September 1939 – in logischer Konsequenz der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts – die ersten Schüsse in Danzig fielen, konnten sich die Westmächte zu nichts anderem durchringen als die Lage als “seltsamer Krieg” [später auch “Sitzkrieg”] zu bezeichnen. Und damit gaben sie Hitler zum vierten Mal grünes Licht und dachten, dass sie mit der Preisgabe Danzigs am Ende ihr eigenes Leben retten könnten. Die nächste Stadt auf der Liste der zu besetzenden Hauptstädte war dann Paris, und bald darauf fielen die Bomben auf London. Und erst dann fing man an zu schreien “Halt!” und “Nie wieder!”

Diese egoistische und kurzfristige Politik der Europäer darf angesichts der Aggressoren nicht wiederholt werden. Die jüngsten Entwicklungen in der Weltlage und der plötzliche Anstieg der Spannungen ähnelt auf seltsame Weise dem Jahre 1939. Russland, ein aggressiver Staat, besetzt einen Teil des Territoriums seines kleineren Nachbarn: die Krim. Die Armee und die Sondergeheimdienste von Präsident Putin intervenieren meist inkognito, werden im Osten der Ukraine eingesetzt, unterstützen die Formationen, die die Bevölkerung terrorisieren, und drohen offen mit der Invasion.

Es gab jedoch im Vergleich zum Jahr 1939 ein Novum: dem in Frage kommenden Täter ist es in den letzten Jahren, während die westlichen Partner noch an sein “menschliches Gesicht” glaubten, gelungen, viele Politiker und Geschäftsleute in seinen Interessensbereich zu locken. Die so geformte Lobby beeinflusst jetzt und zukünftig die Politik vieler Länder. Diese Politik wird mit den Worten “Russland zuerst!” und sogar “Nur Russland!” beschrieben. Jetzt ist sie zusammengebrochen. Europa benötigt nun dringend eine neue Ostpolitik.

Deswegen richten wir an unsere Nachbarn und unsere europäischen Mitbürger und ihre Regierungen den folgenden dringenden Appell:

 

  1. François Hollande, der Präsident der Französischen Republik und seine Regierung stehen vor der Versuchung, einen Schritt zu tun, der viel schlimmer ist als die Passivität Frankreichs im Jahr 1939. in den kommenden Wochen ist Frankreich im Begriff, das einzige Land in der EU zu werden, das dem Aggressor hilft: Frankreich beabsichtigt, Putins Russland zwei nagelneue Hubschrauberträgerschiffe vom Typ Mistral zu liefern. Die Zusammenarbeit in diesem Bereich begann im Jahr 2010, und schon damals gab es viele Proteste dagegen. Nicolas Sarkozy, der damalige Präsident, antwortete gewöhnlich kurz angebunden mit “Der Kalte Krieg ist vorbei.” Jetzt gibt es aber einen offenen Krieg, und er ist auch wirklich im Gange. Es gibt daher keinen Grund, diesen alten Verpflichtungen noch nachzukommen. Einige Politiker und Bernard-Henri Lévy haben Frankreich vorgeschlagen, diese Schiffe entweder der NATO oder der Europäischen Union zu verkaufen. Wenn Präsident Hollande seine Meinung nicht ändert, sollten die Bürger Europas ihn durch den Boykott französischer Waren überzeugen.
  2. Die Bundesrepublik Deutschland begann seit dem Jahr 1982 zunehmend von russischem Gas abhängig zu werden. Schon damals warnten polnische Intellektuelle, darunter Czesław Miłosz und Leszek Kołakowski, vor dem Bau von neuen Gaspipelines, und nannten sie potenzielle “Erpressungwerkzeuge” gegen Europa: Aufeinander folgende Präsidenten der Republik Polen, von Aleksander Kwasniewski bis Lech Kaczyński, haben ebenfalls daran erinnert, mehrmals. Aber die deutschen Politiker schätzten die Zusammenarbeit mit den russischen Machthabern in großen Maße, sei es wegen des berühmten deutschen Schuldkomplexes, weil sie an ein “russisches Wirtschaftswunder” glaubten oder in der Hoffnung, davon zu profitieren. Und sie machen genauso weiter entlang der gleichen Linie, vielleicht unbewusst, in der unglücklichen deutschen Tradition, die besagt, dass man im Osten nur mit einem Partner spricht: Russland. In den letzten Jahren haben sich Unternehmen des russischen Staats oder seine Oligarchen zunehmend in Deutschland breit gemacht, sei es im Bereich der Energieressourcen, in der Welt des Fußballs und in der Tourismusbranche. Deutschland sollte die Bremse ziehen bei dieser Art von Abhängigkeit, hinter der sich immer politischer Druck verbirgt.
  3. Alle Europäer und jedes einzelne Land sollten sich an den Maßnahmen zur Unterstützung der bedrohten Ukraine beteiligen. Hunderte von Flüchtlingen aus den östlichen Gebieten der Ukraine und der Krim benötigen humanitäre Hilfe. Die Wirtschaft wurde durch die Jahre hinweg auf Grund der drakonischen Bedingungen der Verträge mit der Firma Gazprom ausgeblutet, welche ein Monopol auf dem Markt der Energieressourcen hält, und die von der Ukraine, ihrem hilflosesten Kunden, den höchsten Gaspreis verlangt. Die ukrainische Wirtschaft braucht dringend Hilfe, neue Geschäftspartner und neue Investoren. Die Bereiche Kultur, Medien und Bürgerinitiativen – dynamisch und von außergewöhnlichem Reichtum – brauchen die Unterstützung ebenfalls.
  4. Seit vielen Jahren hat die Europäische Union klar gesagt, dass die Ukraine keine Chance habe, Mitglied zu werden oder andere als nur symbolische Hilfe zu erhalten. Die Politik der “Östlichen Partnerschaft” hat nicht viel daran geändert. Man mag fragen, ob es nicht eine Lösung gibt, die als schlimmer bezeichnet werden könnte. Doch über Nacht haben all diese Themen ihre eigene Dynamik entwickelt, vor allem auf Grund der Hartnäckigkeit der ukrainischen Demokraten. Zum ersten Mal in der Geschichte sind Bürger eines Landes mit der europäischen Flagge in der Hand unter Kugeln zu Tode gekommen. Wenn Europa mit ihnen keine Solidarität zeigt, heißt das, dass die von der französischen Revolution geerbten Ideale der Freiheit und Brüderlichkeit keinerlei Bedeutung mehr für Europa haben.

Die Ukraine hat das Recht, sein Territorium ebenso wie seine Bürger zu verteidigen und auf äußere Aggression durch die Intervention seiner Polizei und die Armee zu reagieren, auch in den Grenzgebieten zu Russland. Denn auch in der Region Donezk wie im ganzen Land herrschte von 1991 bis 2014 ein stabiler Frieden; es gab keine gewalttätigen Konflikte, auch in Bezug auf die Rechte von Minderheiten. Wladimir Putin hat mit dem Loslassen der Dämonen des Krieges und der Erprobung einer neuen Art von Aggression aus der Ukraine einen Exerzierplatz gemacht, ganz nach dem Vorbild des spanischen Bürgerkriegs, wo faschistische Einheiten mit der Unterstützung von Hitlerdeutschland die junge Republik angriffen. Wer jetzt nicht zu Putin “no pasarán!” (” Sie werden nicht durchkommen!”) sagt, setzt die Europäische Union und ihre Werte der Lächerlichkeit aus und heißt die Destabilisierung der Weltordnung gut.

Niemand weiß, wer Russland in drei Jahren führen wird. Es ist unklar, wie sich die aktuelle herrschende Elite verhält, eine, die diese abenteuerliche Politik betreibt, die den Interessen des eigenen Volkes entgegensteht. Wir wissen andererseits eines ganz gewiss: Wer weiter “business as usual” betreibt, riskiert den Tod von Tausenden von Ukrainern und Russen, den Exodus von Hunderttausenden von weiteren Flüchtlingen und weitere Angriffe des Imperialismus Putins gegenüber weiteren Ländern. Gestern Danzig, heute Donezk: Wir können nicht akzeptieren, dass Europa für die kommenden Jahre mit einer offenen blutenden Wunde lebt.

Gdańsk, den 1. September 2014

Unterzeichnet von:

Władysław Bartoszewski
Jacek Dehnel
Inga Iwasiów
Ignacy Karpowicz
Wojciech Kuczok
Dorota Masłowska
Zbigniew Mentzel
Tomasz Różycki
Janusz Rudnicki
Piotr Sommer
Andrzej Stasiuk
Olga Tokarczuk
Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki
Magdalena Tulli
Agata Tuszynska
Szczepan Twardoch
Andrzej Wajda
Kazimierz Wóycicki
Krystyna Zachwatowicz

Übersetzt aus dem Polnischen von Malgorzata Smorag-Goldberg – aus dem Französischen übersetzt und editiert von Voices of Ukraine

Quelle: http://www.euractiv.fr/sections/europe-de-lest/de-dantzig-donetsk-1939-2014-308092

This entry was posted in "Voice" auf Deutsch, Appelle - Deutsch, Deutsch, Opinion deutsch and tagged , , , , , , , . Bookmark the permalink.

1 Response to Aufruf polnischer Intellektueller an die europäischen Bürger und Regierungen

  1. justice says:

    Meine Meinung: Nicht Exerzier- sondern Truppenübungsplatz mit dem Ziel der Massenvernichtung. Oberflächlich mag zwischen 1991 bis 2014 ein stabiler Frieden bestanden haben, aufgrund von Korruption und pro-russischer Ausbeutung fehlte der ebenso wichtige soziale Frieden jedoch innerhalb der ukrainischen Bevölkerung. Eine Ausweitung des neurussischen Flächenbrands, der auf der Krim und im Donbas zivilisatorische Werte vernichtet, können sich auch Deutschland, die EU, die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen nicht leisten. In Anbetracht dringender globaler Probleme, wird der vom Kreml angefachte Krieg gegen die Ukraine am wenigsten zur Lösung beitragen. Mit Geschützfeuer und Explosionen wird keine Erderwärmung reduziert und noch weniger die Lebensqualität der betroffenen Menschen verbessert.

Leave a Reply

Fill in your details below or click an icon to log in:

WordPress.com Logo

You are commenting using your WordPress.com account. Log Out /  Change )

Twitter picture

You are commenting using your Twitter account. Log Out /  Change )

Facebook photo

You are commenting using your Facebook account. Log Out /  Change )

Connecting to %s

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.