Grigorij Gutner
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Den Balken in eigenem Auge nicht sehen, aber den Splitter im fremden
Die letzten Ereignisse gestalten sich so, dass es seltsam erscheint, dem Leser etwas anzubieten, was einen distanzierten und abstrakten Charakter hat. Jetzt liest man nur Nachrichtenmeldungen, Erklärungen der Politiker und Ausführungen der Analytiker. Ich werde trotzdem das Risiko auf mich nehmen, zu „theoretisieren“. Wenn wir Menschen sind, dann ist unsere Pflicht zu denken und diese Pflicht in jeder Situation auszuüben. Das ist nicht immer leicht. Man muss, wie Kant fordert, den Mut haben, den eigenen Verstand zu nutzen.
In letzter Zeit hören wir oft verschiedene Anschuldigungen Richtung „Westens“. Üblicherweise bezeichnet man mit diesem Wort den liberalen Werte vertretenden Teil der Menschheit, wobei es meistens um die politische Führung der USA und EU geht.
Man kann lange diese Anschuldigungen unter die Lupe nehmen, aber in einem bestimmten Teil dieser findet man eine ernste Logik. Diese Logik hat den Anfang meinen Überlegungen gegeben. Die Anschuldigungen sehen oft berechtigt aus. Umso mehr, weil sie nicht von bezahlten Propagandisten oder höheren Beamten formuliert werden. Zum Beispiel der Artikel von Steven Cohen, der in einer Ausgabe von „Nowaja Gazeta“ publiziert wurde. Darin wurde die Position des Westens (um kurz zu bleiben werden wir dieses Wort benutzen) durchaus begründet als eine vom Anfang an – buchstäblich seit dem Moment des Zerfalls der Sowjetunion – sehr unfreundliche in Beziehung zu Russland dargestellt.
Diese Unfreundlichkeit besteht insbesondere darin, dass man die Meinung Russlands in vielen Fragen der internationalen Politik ignoriert hatte, Russlands Interessen missachtet und oft entgegen diesen handelte. Zu dieser Art Handeln könnte man auch den neuerlichen Versuch der Eurointegration der Ukraine in die EU zählen, welcher – so Cohen, sich berufend auf Henry Kissinger – zur Zerstörung der Verbindungen der Ukraine zu Russland, sehr schmerzhaft für beide Seiten, führen würde.
Eine solche Einschätzung der Politik des Westens (und darauf folgende Rechtfertigung der russischen Politik) würde sehr überzeugend aussehen, wenn nicht ein Umstand da wäre. Wichtig sind Motive dieser „Unfreundlichkeit“. Cohen nennt diese nicht. Wenn man jedoch die einheimischen Kommentatoren hört, so finden sich verschiedene Meinungen. Die Schlussfolgerungen führen nicht selten zur traditionellen, um nicht zu sagen wesentlichen Feindlichkeit zweier Zivilisationen, verbunden mit einer besonderen Mission Russlands in der Welt. Ich würde allerdings eine andere Version vorschlagen.
Erinnern wir uns an die Niederlage des Hitler-Deutschlands 1945. Damals stellten die Führer der Siegermächte eine berechtigte Frage: Wie erreicht man es, dass Deutschland in der Zukunft keine Kriege mehr anstiftet, wie beugt man für seine Nachbarn und den Rest der Welt in der Zukunft eine mögliche Aggression vor? Diese Frage wurde zum Beispiel auf der Potsdamer Konferenz besprochen. Es wurden gravierende Maßnahmen getroffen: Sowohl Teilung des Landes, als auch strenge Begrenzung der Anzahl und der Bewaffnung seiner Armee, außerdem die Anwesenheit der Okkupationsmächte auf seinem Territorium. Deutschland hat für einige Zeit die Möglichkeit verloren, gleichberechtigt internationale Probleme mit den anderen Ländern zu besprechen, vom Subjekt der internationalen Beziehungen wurde es zum Objekt. Mit der Zeit hat sich vieles geändert. Der Status Deutschlands in der Welt nach einigen Jahrzehnten hat sich radikal verändert. Jedenfalls, deutsche Wiedervereinigung kann viele Frage aufwerfen, aber eine nicht: Vereinigtes Deutschland wurde für Niemand eine Quelle der Bedrohung. Den Grund dafür zu verstehen ist nicht schwer. Aber darüber wird etwas später die Rede sein.
Nun erinnern wir uns an den Zerfall der Sowjetunion 1991. Der Zerfall kam von alleine, wurde vom Niemanden initiiert. Aber man braucht es hier nicht zu verheimlichen, das war ein Zusammensturz des Staates infolge der Niederlage im kalten Krieg. Und wenn es so ist, wäre es dann nicht rechtmäßig eine Frage zu stellen, die schon einmal auf der Potsdamer Konferenz gestellt wurde? Wie garantiert man die Friedfertigkeit eines auf den Trümmern der Sowjetunion entstandenen Staates? Ist sein Status nur durch die Übernahme der internationalen Verpflichtungen und Schulden definiert? Oder wird dieser Staat ein Nachfolger der Sowjetunion auch bezüglich ihrer imperialen Ansprüche? Es gab und gibt leider keine Antworten auf diese Fragen. Aber wenn es so ist, wäre dann die Politik des Westens nicht berechtigt? Könnte sie der Versuch sein, Vorsichtsmaßnahmen gegen eventuelle Rückschläge der Sowjetvergangenheit zu treffen? Genauso ist zum Beispiel die für russische Politiker und Militär NATO-Osterweiterung zu verstehen. Polen, Tschechien und Ungarn haben „brüderliche Umarmung“ des Ostnachbarn auf eigener Haut gespürt. Ganz zu schweigen von den Ländern des Baltikums. Historische Erfahrung spricht leider nicht für uns.
Ist es aber rechtens, die Gefahren, die einmal von der Sowjetunion ausgegangen sind, auf Russland zu projizieren? Warum hat Deutschland aufgehört, eine Gefahr darzustellen, und Russland erweckt nicht das Vertrauen der Weltgemeinschaft? Meiner Meinung nach geht es nicht nur um Aggression. Viele Staaten in der Welt haben sich mehr oder weniger aggressiv verhalten oder verhalten sich immer noch so. Aber Sowjetunion (wie die Nazi-Deutschland auch) stellt einen besonderen Fall dar. Das war die Vereinigung von 3 erschreckenden Eigenschaften: Ersten, die schon genannte Ausrichtung auf Aggression, auf ständige äußere Expansion. Zweitens, strenge Isolation, völliges Abgeschottet-Sein von der Außenwelt, begleitet von der Überzeugung, dass diese Außenwelt böse ist. Drittens, ein-Parteien-System innerhalb des Landes, das keine andere Meinung zulässt, das bedingungslose Konsolidierung der Bürger und strenge Reglementierung ihres Lebens vorsieht.
Sicher, diese Eigenschaften haben sich im Laufe der relativ langen Geschichte des sowjetischen Staates verändert. In der poststalinistischen Nachkriegszeit treten diese Eigenschaften in relativ milder Form auf. Aber sie verschwinden nicht. Als erstes bleibt die Aggressivität erhalten, obwohl sie andere Formen annimmt. Es versteht sich, keiner der späteren Sowjetführer von der Weltrevolution sprach. Offenbar plante keiner von denen im Ernst einen Marsch auf Ärmelkanal oder Landung der Spezialeinsatzkräfte auf japanischen Inseln. Man muss jedoch ein bemerkenswertes Detail beachten. Der 20te Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hat das friedliche Zusammenleben als Hauptkonzept der Außenpolitik verkündet. Der Sinn dieses Konzepts bestand darin, dass friedliches Zusammenleben eine neue Form des Klassenkampfes darstellt. Mit anderen Worten, friedliches Zusammenleben ist nur ein befristetes Kompromiss. Eine feste Tatsache war der Antagonismus zweier Systeme, schlussendlich war das Verschwinden eines dieser Systeme die einzige Lösung. Mit anderen Worten, die Ausrichtung auf die Zerstörung westlicher Gesellschaft war ungebrochen. Sowjetische Führung war hinsichtlich der Lösung dieses Problems sehr konsequent. Sie leistete Unterstützung aller Bewegungen, die in irgendeinem Maße die Zerstörung dieser Gesellschaft im Auge hatten. Beginnend mit den pazifistischen, bis hin zu eindeutig terroristischen. Dies wurde von den hartnäckigen Bestärken eigener Ideologie und Propaganda sozialistischer Werte in jedem Punkt der Erde, sowie vom Waffenexport in alle „Brennpunkte“ begleitet. Dazu ständiges Vergrößern eigener Streitkräfte, welches Verteidigungszwecke überstieg.
Das Gleiche kann man behaupten von den zwei anderen Eigenschaften. Sie bleiben, obwohl in einer gemilderter Form. Sicher – und es ist extrem wichtig – der totale Terror der Stalinzeit ist verschwunden. Aber sein Schatten war immer über dem Land präsent.
Es ist nicht schwer, die logische Verbindung zwischen drei genannten Eigenschaften zu sehen. Der Paradox folgender Verbindung: einerseits Isolation, andererseits das Gerichtet-Sein nach Außen: Streben nach Ausbreitung, Export der Ideologie, Überzeugen der Anderen von eigenem Wertesystem. Ohne tiefer zu gehen, betone ich die Haupteigenschaft dieser Ideologie. In ihrem Kern befindet sich die Vorstellung von der Feindlichkeit der Außenwelt, die sich aus der Vorstellung von der prinzipiellen feindlichen Ausrichtung der Außenwelt resultiert, hergeleitet von dem Gegenüberstehen der Weltmächte.
Einer der Ausdrucksmöglichkeiten dieser Ideologie ist die These über den unüberwindbaren Klassenantagonismus. Auch andere Variationen kann man beobachten: Konfrontationsverhältnis der Rassen, Konfrontationsverhältnis der Zivilisationen, Konfrontationsverhältnis der Religionen. Daraus resultieren gleich zwei Anforderungen: Erstens kann man nicht Feindschaft dort zulassen, wo die Wahrheit herrscht. Zweitens, das Licht, das uns sich eröffnet hat, soll über die ganze Welt erstrahlen. Das ist die welthistorische Mission einer Klasse, (des Volkes, der Rasse, der Zivilisatin). Außerdem, wenn man das nicht tut, dann wird auch unsere Festung von dem allherrschenden Bösen zerstört.
Nur in der Sowjetunion und in Nazi-Deutschland wurde die Einheit der drei genannten Eigenschaften erreicht. Wieder die Analogie, die man heute so oft anführt, dass sie einerseits ein Gemeinplatz geworden ist, andererseits eine verbitterte Wut verursacht. Aber was soll man da tun..
Diese Eigenschafen, einzeln genommen, waren in unterschiedlichem Maße unterschiedlichen Staaten eigen. In einigen Momenten seiner Geschichte hat das imperiale Russland versucht, etwas Ähnliches darzustellen. Ende des XIX Jahrhunderts hat diese dreieiniges Monstrum nur im Rahmen der Panslavismus-Ideologie existiert. Interessant, dass in Deutschland zur gleichen Zeit eine ähnliche Ideologie existierte, der sog. Pangermanismus. (Beide Richtungen sind ausführlich beschrieben im Buch von Hannah Arendt „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“). Aber erst im XX Jahrhundert der dreiköpfige Drache ist geschlüpft und ausgewachsen – in gleich zwei Ländern.
Es gibt zwei verbundene Fragen. Erstens, warum genau dort und genau dann dies geschah? Zweitens, warum in einem der Fälle ist dieser abgeschlossen, und im zweiten bleib alles beim Alten? Das, was in unserem Land jetzt geschieht, rührt viel aus der sowjetischen Vergangenheit. Es reicht einem, heutige Propagandameister zu hören, um alle drei Eigenschaften zu entdecken. Und das ist – glaube ich – nicht einfach so entstanden. Wir behielten dies in uns all diese Jahre, manchmal den inneren Tier mit den liberalen Sprüchen versteckend, manchmal sein wahres Gesicht zeigend. Jetzt ist diese Fragestellung ernster geworden: Wer sind wir und was tragen wir in uns?
Wir kehren zurück zum ersten der gestellten Fragen. Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht, nicht kurz und seine einigermaßen ernste Erörterung im Rahmen eines kurzen Artikels ist nicht möglich. Zum Glück ist diese Frage gut erforscht. Ich verweise hier auf das schon erwähnte Buch von Arendt. Darin ist eine wichtige Charakterisierung der Epoche gegeben, in welcher diese zwei Regimes entstanden sind. Das ist die Zeit, als die Massen „die Bühne der Geschichte“ betreten. Es ist schwer zu erklären, welche Probleme zu ihrer Entstehung geführt haben. Aber die Massen gibt es.
Die Massen – das ist eine Vielzahl der vereinzelten und frustrierten Individuen, die kein normales Leben in der Gesellschaft haben. Sie haben kein Miteinander, aber sind sehr zugänglich für die vereinigenden Ansprachen autoritärer Führer. Sie können keine Komplexität ertragen, empfinden den Wunsch zum Nachdenken als fremd und sind deswegen für einfache ideologische Schemata offen. Meistens sind es Schemata, welche die Menschheit in „unsere“ und „fremde“ aufteilen. Das Hauptgefühl, welches die Massen konsolidiert, ist die Kränkung.
Viele Denker Ende XIX und Anfang XX Jahrhunderts haben über dieses zerstörende Gefühl geschrieben (Nitzsche, Scheller, Berdjajew). Darin ist das Gefühl einer Unzulänglichkeit, Neides zu denen, wer besser, Hass zu denen, die klüger sind. Dies produziert leicht imaginäre Gegner.
Die Massen, die vom Gefühl der Kränkung erfasst sind, können für die Macht gefährlich werden, wenn diese Kränkung sich gegen die Macht wendet. Aber diese Massen können auch eine Stütze und ein Instrument der Macht werden, wenn die Macht diese Kränkung gegen jemand anders richtet. Zum Beispiel, gegen seine innere und äußere Feinde. Genau die Massen stellen den idealen Nährboden für die drei Eigenschaften, die ich oben erwähnt hatte, dar. Die Massen sind aggressiv, neigen zur Xenophobie. Sie neigen zur Einheitlichkeit, dulden keine Vielfalt, zumindest nicht im Gedankengut. Und endlich, wenn ein Massenmensch sich selbst nicht achtet, achtet er den Anderen auch nicht. Ihn interessieren Gespräche über die Menschenwürde nicht, der Ausdruck „Menschenrechte“ ruft ein Lächeln oder Zorn hervor. Deswegen sind die Massen unempfindlich für Verbrechen. Zumindest für solche, welche sie selbst begangen haben oder welche in ihrem Namen begangen werden.
Die Geschichte hat sich so gewendet, dass die Deutschen keine Massen mehr sind. Sie haben es geschafft, eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Wir hingegen, so scheint es, sind „Massen“ geblieben. Die Ereignisse der letzten 25 Jahren haben das Gefühl der Kränkung verstärkt, welches in den letzten Sowjetjahren nicht besonders zu erkennen war. Genau deswegen entsteht bei uns diese Mischung der Aggressivität, des Isolationismus und Intoleranz zu den Andersdenkenden, welche die beiden totalitären Regimes genährt hat. Am Anfang des Artikels habe ich diejenigen Kritiker des Westens erwähnt, die vom Wesensgegensatz zweier Zivilisationen ausgehen. Dieses – seiner Struktur nach als mythologisch zu bezeichnende – Argument ist sehr natürlich für Massen und für totalitäre Ideologien.
Im Grund dieses Argumentes befindet sich der gleiche Gedanke vom Antagonismus in der Welt. Das ist ein recht grobes Modell, das bestenfalls auf eine teilweise, bedingte Beschreibung der Realität Anspruch haben könnte. Kritischer Verstand sieht immer den Unterschied zwischen der Realität und ihrem Modell. Er lässt deswegen alternative Modelle zu, so dass jedes davon in einem bestimmten Grad wahr ist. Die Massen kennen keine Relativität, Hypothesen, Alternativen. Die Massen brauchen ein einfaches und einheitliches Bild. Anders gesagt, Massen sehen nicht und wollen den Abstand zwischen der Realität und der Beschreibung der Realität nicht sehen. Genauso entsteht ein Mythos: Das Schema, welches für die Realität selbst gehalten wird. Und – was nicht unwichtig ist – die dringende praktische Umsetzung aller Schlussfolgerungen, die vom Ursprungsschema ausgehen. Zweifel darf es nicht geben. Möglich sind nur zeitweise, taktische Rückschritte und Kompromisse.
Warum wurde Deutschland anders? Warum verschwand das Glauben an Mythos, Aggressivität, Isolationismus, letzten Endes die Kränkung? Nun muss man allgemein bekannte Tatsachen ansprechen. Erinnern wir uns an die Geschichte. Politische und militärische Sanktionen, denen man das besiegte Land ausgesetzt hat, haben letztendlich eine Garantie der Friedlichkeit gegeben. Nicht zu vergessen die Entnazifizierung. Zunächst unter dem Druck der Alliierten, später selbst, das Volk konnte seine totalitäre Vergangenheit hinter sich lassen. Was besonders auffällt, die militärische Niederlage und die darauffolgende harte Maßnahmen riefen bei den Deutschen keine Kränkung – verursacht durch die Siegermächte – wie es nach dem ersten Weltkrieg geschah, hervor. Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst, auf das Nachdenken über eigene Schuld. Jedes denkende Wesen ist fähig zu bereuen, wenn es kritischen Verstand besitzt. Dies fehlt den Massen völlig.
Solschenizyn erwähnt im Roman „Archipel Gulag“ eine bemerkenswerte Tatsache. Bis 1966 in der BRD wurden 86000 Naziverbrecher verurteilt. 86000mal wurde das Verbrechen öffentlich, vom Richtertisch gebrandmarkt. Wichtig ist sogar nicht das Grad der Bestrafung, weil es keine Frage der Rache ist. Wichtig ist die Tatsache selbst: Das Verbrechen wurde als Verbrechen bestätigt. Die Massen, wie ich schon gesagt hatte, sind unempfindlich für Verbrechen. Sie lieben die Gewalt. Sie brauchen Todesstrafen, erfolgreiche Kriege, besetzte Territorien, vernichtete Feinde. Man braucht Mut und eine Fähigkeit zu denken, um solche Bestrebungen als verbrecherisch einzustufen, und deren Verwirklichung als ein Verbrechen. Genau dies zeugt davon, dass die Massen verschwinden, und die Menschen erscheinen, welche zur Kommunikation und zum Denken fähig sind.
Wir konnten nichts dergleichen verwirklichen. Verbrechen, begangen in unserem Land, bleiben mit uns. Die Idee von möglichen Reue, davon, der Vergangenheit eine wenn nicht rechtliche, so zumindest eine moralische Bewertung zu geben, stößt ständig auf Widerstand. Die Reaktion variiert von friedlich-gleichgültig (wozu die Vergangenheit aufwühlen) bis zu verärgert und sogar gekränkt – wir lassen die Schmähung unserer Geschichte nicht zu! Die Massen suchen danach, worauf sie stolz sein können, auch wenn es Verbrechen sind.
Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen unserer Vergangenheit und dem, was jetzt geschieht. Wir schreiben unsere Geschichte weiter und schreiben diese als Massen. Weder Korruption noch Liebe zur Macht unserer Führer bestimmen die Politik des Landes. Die Führer haben nur dann Erfolg, wenn deren Handeln die Stimmungen des Volkes widerspiegeln. Wir tun das alles selbst, obwohl wir nicht verstehen, was wir eigentlich tun. Irgendwann sollte man aufhören, Massen zu sein.
Unvermeidlich, dass die Länder, in welchen es Zivilgesellschaft gibt, nicht freundschaftlich zu uns sein werden, weil wir gefährlich sind. Unvermeidlich, dass unsere frühere Verbündete, die sich zu den demokratischen Idealen (und nicht den Idealen der Massen) bekennen, sich von uns entfernen werden. Sogar wenn diese Distanz schmerzlich sein wird, sogar wenn dies zum Bruch der wirtschaftlich vorteilhafter Verbindungen führt. Wenn wir nicht aufhören, Massen zu sein, ist unsere Zukunft nicht zu beneiden. Ich werde nicht die Folgen einer internationalen Isolation beschreiben. Man kann natürlich den Gürtel enger schnallen und sich der ganzen Welt gegenüber stellen. Das haben wir schon getan. Aber es geht letztendlich nicht um wirtschaftlichen, sondern um moralischen Verlust.
Zum Anfang meines Artikels wiederkehrend, möchte ich anmerken, dass die Kritik den westlichen Ländern, gegenüber ist nur oberflächlich einleuchtend. Vielleicht verdienen sie diese Kritik. Es gibt aber eine überzeugende Empfehlung – den Balken aus eigenem Auge zu entfernen, bevor man den Splitter im fremden sieht. Ich denke, dass sogar diejenigen, die den Autor dieses Rates nicht besonders achten, werden anerkennen, dass dieser Ratschlag sehr vernünftig ist. Uns es liegt nicht daran, den Respekt der westlichen Politiker oder das Vertrauen der Weltgemeinde zu verdienen. Letzten Endes geht es auch nicht darum, Wohlstand und Zivilisiertsin zu erreichen. Vielleicht kommt das alles. Abre nicht deswegen brauchen wir eine nüchterne moralische Selbsteinschätzung. Das ist nötig, um eine wirkliche moralische Würde zu erlangen, um sich selbst achten zu lernen.
Meine Aufrufe können widersprüchlich erscheinen. Wir werden nicht aufhören Massen zu sein ohne eine nüchterne moralische Selbsteinschätzung. Wir werden aber dafür keine Kraft haben, wenn wir Massen bleiben. Es sind jedoch erste Schritte möglich! Vielleicht erinnert sich Jeder von uns öfters an seine Menschlichkeit! Das bedeutet „nur“, seine Kränkungen nicht ständig zu pflegen und seine „Kleinverbrechen“ nicht jederzeit zu rechtfertigen. Und es irgendwie sich selbst klar zu machen, dass unser gemeinsames Selbstwertgefühl, so wie das Selbstwertgefühl eines Jeden von uns, nicht auf den Triumphen, sondern auf die Fähigkeit, eigenes Unrecht anzuerkennen, entsteht.
Kein Individuum ist Teil der Masse, sondern ein Bestandteil der Gesellschaft.