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“In Kiew werden junge Bäume gesetzt” meldet die Onlinezeitung “Große Epoche”. Diese fällt mir zum allerersten Mal in der Medienlandschaft von ukr.net auf. Es ist heute Abend die einzige Meldung, die mir nicht in die Auflistung von Schlagzeilen zu passen scheint. Daher nehme ich sie in Augenschein. Kiew, so haben wir es seit 2009 erlebt, nennt sich die Stadt der Blumen. In den letzten Jahren waren solche Meldungen hier eigentlich auch typisch. Manchmal konnte man sich mit etwas Hintergrundwissen so richtig darüber ärgern. Zum Beispiel über die roten Kastanien, die letztes Jahr – oder war es schon zur Euro 2012?- am Kreschtschatik gepflanzt wurden. Nachdem man die weißen Kastanien, eines der Wahr- und Gütezeichen von Kiew entfernt hatte. Und die roten Kastanien, nicht für unser Klima gemacht, aber exotisch und teuer, wuchsen nicht so richtig an. Auf Kosten des Steuerzahlers. Ich lese also von Pappeln, Akazien, Kirschen und roten Eichen und noch vielen anderen Bäumen. Dann fällt mein Blick auf einen Lesetipp in der selben Zeitung: “Nach den Protesten werden am Kreschtschatik neue Kastanien gesetzt”. Das muss ich doch anklicken!
Der Kastanien- Artikel ist vom 18. Februar – dem Tag, als Scharfschützen das Feuer auf die friedlichen Demonstranten vor der Werchowna Rada eröffneten und Ralf beim Filmen von einem Gummigeschoss am Finger getroffen wurde. Welch absurde Variante von Luthers Apfelbäumchen!
Vorhin, in unserem Lieblingsrestaurant, nahm mein Tischnachbar einen Anruf entgegen. Sein guter, treuer Mitarbeiter ist einberufen worden. Ihm wurde gesagt “Am Montag gibts Krieg.” (Ein weiterer Artikel meldet: “Der 17. März ist auf der Krim zum freien Tag erklärt worden.”) Was sagt man in so einem Fall? Die Frage stellt er seiner anderen Tischnachbarin und sie übersetzt ihm schnell etwas wie “Pass gut auf dich auf!”. Unbehagen.
“Ich denke, alles wird gut.” – “Bei der ganzen Sache kann eigentlich nichts Gutes herauskommen.” – “Wir können echt bloß noch auf Gott hoffen.” In diesem Spektrum bewegen sich die Prognosen, die ich in den letzten Tagen gehört habe. Traurigkeit bei uns Ausländern. Wie können wir helfen?
Heute früh habe ich Dima getroffen, der mir seine Befürchtung erzählte, dass der friedlich Maidan von innen ausgehöhlt und untergraben werde. Als ich ihn fragte, was ich meinen Freunden auf Facebook erzählen sollte, sprudelte es noch lebendiger aus ihm hervor, in schönem warmen Ukrainisch, leider so schnell, dass ich nur ein Drittel verstand. Ich bat ihn, mir das doch schriftlich zu geben, gab ihm meine Mailadresse und Telefonnummer. Ja, er habe den direkten Kontakt zum Präsidenten des Maidan, er habe immer die frischesten Informationen. Ob er mir die auch telefonisch mitteilen könne? Ich sagte, dann habe ich Sorge, nicht alles zu verstehen, weil ich nun mal nicht so gut Ukrainisch kann. Beim Lesen wäre das schon was Anderes. “Aber das ist doch gar kein Problem, dann sag ich Ihnen das einfach auf Russisch!” (das einzige Lächeln während dieses Gesprächs – alles Andere hat er mir mit weit aufgerissenen Augen erzählt, fast, als sei er zutiefst geängstigt.)
Am Nachmittag kam ich noch mal kurz in der Kirche vorbei um in Eile etwas abzuholen. Da lud er mich aufs Wärmste zum Mittagessen “oder wenigstens zum Tee” ein. Er ist auch einer unserer Lazarettgäste. Ich lehnte die Einladung ab. “Wir werden uns immer sehr freuen, Sie als unseren Gast begrüßen zu dürfen.” sagte er mir. Ich glaube, er hatte nicht mitbekommen, das ich sozusagen die Frau des “Hausherrn” bin.
Dima hat mich nicht angerufen, mir nicht geschrieben, obwohl am Morgen alles sehr dringend klang, was er mir erzählte.
Valera, der morgens zugehört, ja der Dima eigentlich erst in unser Gespräch mit hereingezogen hatte, meinte später, ich könne getrost die Hälfte von dem streichen, was dieser mir erzählt habe. “Jeder versucht auf seine Weise, die Ereignisse auszuschmücken. Da basiert viel auf Gerüchten. Aber das, was ich Ihnen erzählt habe, stimmt zu hundert Prozent.”
Später, in der Geschichtsschreibung, wird sich das alles ganz klar anhören, wenn es überhaupt erwähnenswert scheint. In der Gegenwart jedoch tasten wir vorsichtig nach dem Wahrheitsgehalt von Informationen und Scheininformationen. Was können wir getrost streichen, welchen Aussagen sollten wir Bedeutung zumessen, was von der Auswahl der Ereignisse, die wir selbst erzählen, ist wirklich wichtig?
Wie gut, dass Gott die Wahrheit ist, an die wir uns getrost halten dürfen!