Joerg Drescher: Zwischen Sorge und Glaube
Quelle: https://www.facebook.com/notes/joerg-drescher/zwischen-sorge-und-glaube/10202308957384044
Ein Blick in die (Welt)Geschichte zeigt, daß Revolutionen noch nie in ein paar Tagen die Ziele erreichten, welche gefordert wurden. Es gibt “erfolgreiche Revolutionen” (z.B. USA), und es gibt welche, bei denen das Pendel zurückschwang (z.B. französische Revolution). Es gibt auch Revolutionen, nach denen die Leute mit dem Ergebnis nicht zufrieden waren (z.B. manche DDR-Bürger, die der harten Marktwirtschaft ausgesetzt wurden und nur dann die ersehnte Freiheit haben, wenn sie sich den Marktgesetzen unterwerfen). Manche Revolutionen verliefen blutig, andere friedlich.
Ich halte es in der Ukraine für verfrüht, glücklich, traurig, zornig oder enttäuscht zu sein, denn noch ist der Ausgang offen. Und die Leute auf dem Maidan (und landesweit) haben einen starken Willen. Sie eint nicht nur die Ablehnung des Regimes (verstanden als mafiöse politische Struktur), sondern auch der Wunsch nach gemeinsamen Werten, die sie mit einer Sehnsucht nach Europa verbinden. Das macht mir insoweit etwas Sorgen, da ich Europäer bin, die EU kenne und damit den Unterschied zwischen den proklamierten Werten (Humanismus, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Freiheit, Friede…) und gelebten Werten (Marktwirtschaft).
Derzeit ist unsicher, ob es zu einer Verschärfung der Lage in der Ukraine kommt. Dies hängt hauptsächlich davon ab, wann das Regime (aber auch die politische Opposition) einsieht, um welche Werte es den Menschen tatsächlich geht und inwieweit diese Forderungen berücksichtigt werden.
Kommt es zu einer (dann sehr blutigen) Niederschlagung der Revolution, ist dies eine Vergewaltigung der genannten Werte. Ich glaube allerdings, daß die Sehnsucht danach nicht (mehr) erstickt werden kann und das Volk weiter aufbegehren würde.
Sollte es (hoffentlich wirklich bald) Neuwahlen geben, die mit einem politischen Systemwechsel einhergehen, steht die Ukraine immer noch vor enormen Problemen. Werden diese nicht in Richtung der genannten Werte gelöst (was ich mit einem Verrat an der Revolution gleichsetzen würde), führt dies mitunter zu neuen Revolten.
Der Mut und die Entschlossenheit, sowie die Einigkeit der Ukrainer basiert meiner Meinung nach auf Wertvorstellungen und einem tiefen Glauben, daß es eben wert ist, dafür zu kämpfen. Die Mittel dieses Kampfes sind dabei mehrheitlich friedlich und verblüffend einfallsreich. Steine, Molotowcocktails und Schlagstöcke gab es zwar auch, aber auf die Gesamtzeitspanne der Proteste bezogen, machen sie einen relativ geringen Anteil aus (wobei die Staatsgewalt auch gesehen werden muß, sowie die Ignoranz des Regimes, das sich erst bewegte, als Blut floß).
Die Verunglimpfung der Revolution als nationalistische Revolte, hat aus meiner Sicht auch viel damit zu tun, weil kaum über die Ziele (eben die europäischen Werte) berichtet wird, da selbige in Europa als „erfüllt“ betrachtet werden. Es erscheint zu seltsam, daß Menschen für etwas in Europa so (scheinbar) selbstverständliches kämpfen.
Noch ist die Revolution nicht vorbei! Aber ich glaube immer noch an ein gutes Ende, denn die Sehnsucht nach den genannten Werte sind meines Erachtens stärker als das, was ihnen entgegengesetzt wird.