Charis Haska: Territorium

Charis Haska: Territorium

Quelle: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/634197406646954

Jetzt ist der hässliche Bauzaun der Bauruine vor unserem Haus demontiert. Nur noch ein niedriges Betonmäuerchen erinnert daran, dass dieses protzige Haus, das bis heute weder an Wasser, Strom, Gas noch an die Fernheizung angeschlossen ist, bis vor Kurzem noch Tag und Nacht von einer Wachschutzgesellschaft strengstens bewacht wurde. Am Sonntag habe ich nach unserem Spaziergang mit Annegret einen Schlenker auf das Gelände gemacht und von dort aus die andre Baustelle betrachtet, die uns seit Jahren Kummer macht und nach wie vor unser Haus erschüttert. Während vor unseren Fenstern immer tiefer gegraben wird, ist da tatsächlich ein Gebäude am Wachsen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich ungehindert ein Territorium zu betreten, das einem immer verwehrt war.

Gestern früh habe ich dann an der Außentür einen kleinen Aufkleber mit folgendem Text (Großschreibung wie im russischen Original) in Augenhöhe gefunden: „TEUER und MAXIMAL schnell verkaufe ich Ihre Wohnung“, ohne Namen, nur mit Telefonnummer. Damals, als der Ärger mit der illegalen Baustelle begonnen hatte, hatten wir Eigentümer gemeinsam versucht, Druck auf den Initiator der Baustelle zu machen, indem wir ihm androhten, vor Gericht zu gehen und das Fernsehen einzubeziehen, wenn er uns nicht adäquate Ersatzwohnungen beschafft. Angebote hatte er damals nur auserwählten Hausbewohnern gemacht (d.h. uns Ausländern und dem Ehepaar, dessen Fenster völlig mit Bauzäunen verschlossen wurden). Das auch nur durch einen Strohmann. Die Angebote waren nicht akzeptabel. Als Ralf anhand von Wohnungspreisen in der Luteranska Forderungen stellte, bekam er zur Antwort: „Was haben Sie denn? Ihr Haus ist das billigste in der Luteranska.“ Nun also bietet ein unbekannter und unseriöser Makler seine erlesenen Dienste an. Wie verlockend.

Ich traf einen der Nachbarn im Hof, ins Gespräch vertieft mit dem netten Bauarbeiter aus der Westukraine. Den Aufkleber kommentierte er so: „Es hat schon einige solcher gegeben. Die schieben uns offensichtlich diejenigen unter, die für diese Baustelle verantwortlich sind.“

Der Westukrainer erkundigte sich sehr nach der Schule, die an unseren Hof angrenzt. Ob das eine ukrainische Schule sei? Ja, sagte mein Nachbar. Er sei da selbst auch zur Schule gegangen. Sie sei immer ukrainisch gewesen. Der Westukrainer erzählte, er traue seinen Augen kaum, welche Leute da ihre Kinder zur Schule bringen. Er zählte verschiedene Namen von Deputaten auf, die er während seiner Arbeit da beobachtet hatte. „Und in was für Autos sie hier vorfahren! Unglaublich, diese Schlitten!“ Er legte mir nahe, besser Ukrainisch zu lernen. Russisch zu sprechen, das sei jetzt nicht mehr angemessen. Ich kramte all meine ukrainischen Brocken hervor und versuchte sie nach Kräften anzuwenden. Er plauderte er mit mir weiter und behielt die ganze Zeit seinen heiteren, freundlichen Ton bei.

Am Abend gab es dann eine erneute Großversammlung am Maidan mit anschließendem Marsch zur Werchowna Rada. Mit großem Unbehagen verfolgten wir das im Internet.

Einem meiner Freunde gegenüber äußerte ich heute Morgen meine Befürchtungen diesbezüglich: „Was wollten die Aktivisten bloß da? Wenn sie gegen die Übergangsregierung vorgehen, verspielen sie sich dann nicht Vertrauen und Hilfe des Westens?“ –

„Sie wollen, dass die Regierung an der Ostukraine nicht den gleichen Verrat begeht, wie an der Krim. Was haben sie denn gemacht? Nur geredet. Mit dem Erfolg, dass wir die Krim verloren haben. Ja, und der Westen, was hilft der schon? Haben die denn nicht gemerkt, dass Putin die Sanktionen egal sind? Aber bitte, ich kann Euch verstehen: Ihr bekommt Euer Gas aus Russland, also schweigt und bekommt weiter Gas!

“Kennen Sie die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg? Wissen Sie, wie viele Leute die Russen nach Sibirien verschleppt haben? Und wie wenige von ihnen zurückgekommen sind, während die anderen Siegermächte ihre Kriegsgefangenen nach ein bis zwei Jahren frei gelassen haben? Ganz genauso werden sie es in der Ostukraine mit allen machen, die ihnen nicht passen. Mit denen, die am Maidan aktiv waren. Ich bin aus der Ostukraine und habe mich am Maidan beteiligt. Ich will nicht nach Sibirien. Hilfe aus dem Westen? Man könnte auch anders helfen, zum Beispiel könnte man uns ausrüsten, dass wir uns verteidigen können. –

“Wieso unsere Regierung nichts macht? Sie sagen, es haben sich zu wenig Freiwillige zur Armee gemeldet. Warum nehmen sie dann nicht die Leute vom Maidan, die darauf warten, etwa für ihr Land zu tun? Vor lauter Warten fangen die das Saufen an. – Ja, natürlich könnte man sagen: <Russland ist ja in sich selber instabil und wird sowieso demnächst zerfallen.> Das mag ja auch stimmen. Aber das russische Volk ist leider so, es fängt erst an zu denken, wenn ihnen die Leichen nach Hause getragen werden.

“Haben wir Ukrainer etwa die Russen überfallen? Haben wir uns heimlich auf ihr Territorium geschlichen, um dort Unruhe zu stiften? Haben wir hier irgendjemand bedroht, weil er Russisch spricht? Drei meiner Geschwister leben in Russland. Sie sind so oft zu Besuch gewesen, nie hat ihnen jemand was angegetan, weil sie aus Russland kamen.“

Ich denke nach. Kann ich es mir noch leisten Pazifistin zu sein? In Friedenszeiten ist das so leicht…

„Heute werden sie wieder zur Werchowna Rada ziehen.“ fährt er fort. „Sie wollen die Deputaten zur Rede stellen. Irgendetwas Ungutes wird demnächst passieren. Ich spüre das. Hier spüre ich das” Er fasst sich ans Herz. “Ob die Wahlen überhaupt stattfinden werden können? “

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1 Response to Charis Haska: Territorium

  1. justice says:

    Das Wort sei wahr, die Tat entschlossen. (Chinesische Weisheit)

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