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Die Veranstaltung AUGENZEUGEN am 28.09.2014 in Dresden hat die Ereignisse in der Ukraine ganz nah an uns herangebracht. Keiner unserer Gäste, der nicht in den letzten Monaten Angehörige, Freunde, nahe und ferne Bekannte verloren, der nicht schreckliche Dinge gesehen hat. Manch einer, der sein ganzes Hab und Gut verloren hat, der gestern noch eine Heimat hatte und dem heute nur noch eines sicher ist: Die Ungewissheit des Lebens auf der Flucht.
Eingeladen hatten wir in ein Land, das in der Ukraine einst als Hort der Demokratie und des Wohlstands wahrgenommen wurde. Jetzt ist Ernüchterung eingekehrt. Deutschland scheint eine Wohlstandsfestung, in der die den Ukrainern von den vereinigten Europäern gern gepredigten Werte, für die der Maidan nun hartnäckig kämpft, kaum noch Platz haben.
Deswegen umso herzlicher unser Dank allen, die gekommen waren, um unseren Gästen zu zeigen: Ihr steht nicht allein. Und solange das so ist, besteht Hoffnung für die Ukraine, für Deutschland und für Europa.
Der Gesandte der Ukraine und Botschaftsrat Oleg Mirus berichtete kurz über die Situation im Lande. Die Ukraine habe sich ganz klar entschieden, wohin sie gehen will. Dieses große und reiche Land ist ein Stück Europa und wird zukünftig nicht nur territorialer Bestandteil Europas sein. Die politische Selbstbestimmung der Ukraine müsse von Russland und von Europa respektiert werden. Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass die Menschen der Ukraine tatsächlich nach den europäischen Werten streben und Europa müsse das würdigen.
Kirill Marlinski, einer der Initiatoren vom Kiewer „Automaidan“ und Aktivist der ersten Stunde, der seine Schulausbildung in Berlin erhielt und in den Vereinigten Staaten studierte, beeindruckte durch sein enormes Wissen und seine politische Weitsicht. Er gab einen Abriss über die Entstehung der Maidanbewegung, sprach über Aufstellung und Organisation der Freiwilligenbataillone, für deren Finanzierung und Ausrüstung seine Sektion des „Automaidans“ zuständig ist. Er sprach über die Unfähigkeit der Verwaltung und Regierung, die die Bürger der Ukraine zwinge, die Verteidigung des Landes selbst in die Hand zu nehmen. Er berichtete von den Opfern in seinem eigenen Freundeskreis und von der Enttäuschung vieler Ukrainer über die Rolle Europas und die offensichtliche Unfähigkeit bzw. die Unlust vieler Europäer, die Tragweite des Konfliktes zu überblicken, der nur scheinbar fern sei.
In der späteren Diskussion zeigte sich Kirill Marlinki auch entsetzt über die tendenziöse Berichterstattung selbst in den öffentlich-rechtlichen deutschen Medien, die unter anderem über rechtextreme Tendenzen im Bataillons „Azov“ zu berichten wussten. Er widersprach dem sehr deutlich. Von seinen Gefährten vom „Automaidan“ seien mehr als zwanzig Mitglieder in diesem Bataillon, mit denen er in Kontakt stehe und die er auch bei seinen Fahrten in die Ostukraine persönlich trifft, wenn Ausrüstung und Spenden zu den Bataillonen gefahren werden: Rechtsextremismus oder gar faschistische Tendenzen seien jedenfalls nicht festzustellen, ganz im Gegenteil: Im Bataillon „Azov“ kämpfen Juden, Muslime, Christen, Atheisten, Russischsprachige und Ukrainischsprachige Seite an Seite gegen einen Aggressor und tragen mit Stolz die Swastika, die in Deutschland fälschlicher Weise als faschistisches Symbol gesehen wird. Das sei sie keineswegs, sondern ist seit Jahrtausenden ein slawisches Glückssymbol. Den meisten Ukrainern ist noch nicht einmal bekannt, dass eine Division der deutsche Waffen-SS dieses Symbol „gestohlen“ und missbraucht hatte. In seiner heutigen Verwendung kennt man es nur in seiner ursprünglichen Bedeutung.
Er führte auch aus, dass über eine separierte, kriminellen Strukturen überlassene Ostukraine die zukünftigen Schmuggelwege für afghanische Drogen führen werden, die über das Schwarze Meer nach Europa einsickern und zu einem Preisverfall bei Heroin etc. führen werden. Auch dies sei Bestandteil der russischen Destabilisierungsstrategie für Europa. Ebenso würde eine mehr oder weniger gesetzlose Ostukraine zum Umschlagplatz russischer Waffen werden, die von dort unkontrolliert und entgegen allen internationalen Vereinbarungen unkontrolliert in alle Welt gelangen könnten.
Auf die Frage, ob Russland die Krim ohne See- oder Landbrücke langfristig halten und versorgen könne, antwortete Kirill Marlinski mit einem deutlichen „Nein“ und verwies auf die Notwendigkeit einer Landbrücke, da eine Seebrücke für Russland weder technisch noch finanziell zu bewerkstelligen sei und die Fährverbindungen insbesondere im Winter zu unsicher für eine zuverlässige Versorgung seien.
Zur immer wieder medial verzerrten Darstellung des Verhältnisses der Sprachgruppen untereinander sagte er: „Ich spreche russisch, deutsch und englisch. Ich verstehe mich mit jedem Ukrainischsprachigen jeder Ukrainischsprachige versteht mich. Ich hatte nie einen Nachteil wegen meiner Sprache, ganz im Gegenteil, mich verstehen die Ukrainischsprachigen UND die Russischsprachigen und ich kenne auch niemanden, für den die russische Sprache je einen Nachteil hatte.“
Sergeij, ein TV-Journalist, erst vor wenigen Tagen verletzt aus Donezk geflohen, möchte, dass sein Name nicht genannt wird, da seine Familie noch in Donezk lebt und er um ihr Leben fürchtet.
Er erzählt von den Anfängen des Euromaidans in Donezk, als auf friedliche Demonstranten immer wieder bezahlte Schläger gehetzt wurde, bis die demokratische Protestbewegung vollständig durch gewaltsame Aktionen abgelöste wurde, unter deren Schild die sogenannten Separatisten die Verwaltungsgebäude in Besitz genommen hätten, geschützt durch die örtlichen Polizei.
Die „pro-russsischen“ Demonstranten seien dabei vornehmlich Kriminelle und Arbeitslose gewesen, die sich für Geld haben einspannen lassen.
Die separatistischen Aktivitäten seien seinen Erkenntnissen zufolge lange Zeit von dem Oligarchen Rinat Achmetov unterstützt worden, jedoch habe dieser, auch mit dem Einsickern russischer Spezialkräfte und dann auch des russischen Militärs zunehmend seinen Einfluss auf die Entwicklungen verloren, die nun aus Russland gesteuert werden.
Bei seinen Interviews mit den Terroristen habe er immer wieder feststellen müssen, dass diese überwiegend russischen Dialekt sprachen (man könne sehr wohl den Dialekt der russischsprachigen Ostukrainer und den der Russländer unterscheiden) und auch selten einen Hehl daraus machten, aus der russischen Föderation zu stammen. Auch im engeren Umfeld von Borodai, dem selbsternannten Führer der „Donezker Volksrepublik“, den er persönlich interviewt hat, seien immer sehr viele Russländer gewesen.
Auch an der Absturzstelle von MH17, von der er für CNN berichtet hat, sei ihm der hohe Anteil an Russländern in „Separatisten“-Uniformen aufgefallen, die dort die Bergungsarbeiten übernommen hatten und dafür sorgten, dass das Personal der OSZE alles andere als ungehinderten Zugang zu den Absturzstellen erhielt.
Als besonders schlimme Verbrechen der Terroristen und der russischen Armee schilderte Sergeij, dass diese die ukrainischen Streitkräfte ungehemmt mit völkerrechtlich geächteten Kassettenbomben beschießen würden und begonnen hätten, ganze Landstriche zu verminen. Dadurch seien schon viele Menschen, und auch viele Kinder, völlig sinnlos gestorben.
„Donezk ist tot“ war sein wenig ermutigendes Fazit auf die Frage, ob er Hoffnung habe, irgendwann wieder in seine Heimat zurückkehren und seine Familie dort wiedersehen zu können.
Die Kiewer Künstlerin, Malerin und Initiatorin des Projektes „Blau-Gelbe Schwingen“, Svitlana Zhavoronkova erzählt von ihrer Arbeit, mit der sie und ihre Gruppe traumatisierte Verletzte, denen die Terroristen und die russische Armee ganze Körperteile weggeschossen haben, durch künstlerische Beschäftigung therapieren. Die dabei entstehenden Bilder werden verkauft, um die therapeutischen Maßnahmen finanzieren zu können.
Dmytro Petryna, Fotograf aus Ivano-Frankivsk, erzählt von seinem Freund, mit dem er sooft als möglich telefoniert, der mit seiner Einheit an dem strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Debalzewo nördlich von Donezk von den Terroristen und der russischen Armee eingeschlossen wurde und die ungeachtet des Waffenstillstandes rund um die Uhr unter russischem Raketenbeschuss lägen und wie die Maulwürfe eingegraben leben müssten. Auch Dmytro hat schon viele Freunde und Bekannte verloren.
Er berichtet auch, dass es Ostukrainer gäbe, die sich für Sold den russischen Kräften angedient hätten, um gegen die Ukraine zu kämpfen, dabei aber ihre Frauen und Kinder als „Flüchtlinge“ in die Westukraine schicken würden, um dort von diesem Sold Wohnungen kaufen und sich ein schönes Leben zu machen. Besonders widerwärtig sei dies vor dem Hintergrund, dass es vor allem die Westukrainer seinen, die freiwillig zur Verteidigung der Heimat an die Front in den Osten ziehen würden und zu Hunderten mit dem Leben bezahlen müssten. Wegen solchen Verhaltens käme es gelegentlich durchaus auch zu Spannungen und Ressentiment gegenüber Flüchtlingen.
Der ebenfalls aus Ivano-Frankivsk kommende Maler Mykola Dzhychka erzählt über die Solidarität im ukrainischen Volk, die sich unter anderem dadurch ausdrückt, dass jeder eingezogene Soldat und jeder Freiwillige in den westukrainischen Dörfern mit einem Fest verabschiedet wird und das ganze Dorf Geld sammelt, um diesen jungen Mann bestmöglich auszurüsten und auszustatten.
Einer der traurigen Höhepunkte war der Bericht der via Skype zugeschalteten Hochschuldozentin Svitlana Zhavoronkova, deren Schicksal keinen im Saal unberührt ließ. Sie gehörte zu den Initiatoren der ersten pro-ukrainischen Demonstrationen in Lugansk, die bald immer wieder von „Titushkis“, also meist aus kriminellen Milieus stammenden, bezahlten Schlägerbanden angegriffen wurden.
Die Angriffe wurden immer brutaler und richteten sich sogar gegen die Kinder der Demonstranten. Im Internet wurden bald Namen und Anschriften der pro-ukrainischen Demonstranten veröffentlicht und der kriminelle Mob offen zur Lynchjagd gegen die Pro-Ukrainer aufgefordert.
Nachdem auch sie und ihre Familie Morddrohungen erhielten und man für den kommenden Tag angekündigt hatte, ihnen die Wohnung abzubrennen, mussten sie wie tausende andere Hals über Kopf fliehen. Sie sind jetzt in Litauen untergekommen. Von dort aus unterstützen sie Freunde und Bekannte bei der Flucht aus Lugansk, das ebenso wie Donezk für pro-ukrainisch denkende und fühlende Menschen keine Heimat mehr sein kann.
Der Unternehmer Mikhailo Oniptschenko, der jetzt in Leipzig lebt, appellierte eindringlich an alle Deutschen und Europäer, sich endlich der Gefahren bewusst zu werden, die von diesem Konflikt und von einem aggressiv operierenden Russland ausgehen. Es sei keineswegs ein „russisch-ukrainischer“ Konflikt, denn die Ukraine und deren Territorium seien nur eines der Ziele des Kremls. Die Haltung Deutschland und Europas sei in vielen Fragen enttäuschend für die Ukraine. Dennoch glaube er daran, dass sich mehr und mehr Menschen dessen bewusst werden, dass nur ein klares, entschiedenes Vorgehen gegen Russland, auch bezüglich der Sanktionen, dessen imperialen Gelüste bremsen könne. Er hofft und wünscht sehr von den Menschen in Deutschland mehr Unterstützung und Verständnis.
Als danach der Chor der griechisch-katholischen Gemeinde der Ukrainer in Dresden den ukrainischen Choral „Молитва за Україну“ anstimmte, erhob sich der ganze Saal, tief bewegt.
Боже великий, єдиний,
Нам Україну храни,
Волі і світу промінням
Ти її осіни.
Світлом науки і знання
Нас, дітей, просвіти,
В чистій любові до краю,
Ти нас, Боже, зрости.
Молимось, Боже єдиний,
Нам Україну храни,
Всі свої ласки й щедроти
Ти на люд наш зверни.
Дай йому волю, дай йому долю,
Дай доброго світу, щастя,
Дай, Боже, народу
І многая, многая літа.
Herzlichen Dank dem Chor (auch für den ukrainischen Imbiss), dem Kultur Aktiv e.V., insbesondere Mirko Sennewald und Marta Wierzbowska, sowie Natalya Bock, der trotz Erkältung unermüdlichen Übersetzerin, der Martin-Luther-Gemeinde Dresden und allen Freunden, die uns unterstützt und geholfen haben.
Slava Ukraini!
Viktoria Komnik + Christian Chemnitzer, Dresden
Herojam Slava!
Sollte sich der Deutsche Bundestag auch nur für einen Tag zum Betriebsausflug in den Donbas wagen, würde sich hierzulande gewiss so manches schleunigst ändern. Die menschenverachtende Vorgehensweise der Kreml-Führung gegen die Ukraine und ihrer Bevölkerung, auch gegenüber den eigenen Soldaten, lässt selbst Übles für diejenigen erahnen, die mit dem Krieg und der Krim-Annektion noch keinen direkten Kontakt hatten. Meine Erfahrungen in der Ukraine sind zu wahrhaftig, als dass ich die Ausführungen im Artikel bezweifeln könnte.
Der Zeitpunkt der Entscheidung überfällig:
Entweder die Ukraine in ihrem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit mit allen Mitteln und Möglichkeiten unterstützen oder mit der Kreml-Führung ein Imperium der Niedertracht und Barbarei aufbauen.