Charis Haska: Tag der Konstitution

Charis Haska: Tag der Konstitution

Original: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/670058103060884

Hoffentlich hält der Sonnenschein heute den ganzen Tag an. Blaugelbe Flaggen überall in unsrer Straße. An der Kreuzung mit der blaugelben Flagge auch die Flagge der EU. Wir wollen heute mit der Gemeinde einen Ausflug auf dem Dnjepr unternehmen. In den letzten Tagen war es kalt und regnerisch, als ob der Himmel weine… Ich öffne mein Mail.ru- Postfach und sehe nebenbei in den Mail.ru- Ukraine- Nachrichten eine Schlagzeile: „Poroshenko hat den Waffenstillstand um 72 Stunden verlängert.“

Es gab keine Waffenruhe. Jedenfalls nicht auf der Seite der Separatisten. So teilt es mir unsere Ärztin mit, die mit der jungen Ärztin Vika in der Ostukraine in Telefonkontakt steht. „Jeden Tag sind sie beschossen worden.“ Ich habe Angst um Vika.

Gestern war ein besonderer Tag! Endlich wurde das Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen. Gott sei Dank! Hoffentlich gibt es jetzt viele Erleichterungen für die Ukrainer!

Außerdem waren wir gestern als Familie zu einem schönen Anlass eingeladen: Dem Sohn unserer Freunde ist am Institut für Journalistik und internationale Beziehungen sein Diplom im Fach „Internationales Recht“ feierlich überreicht worden. Unsere Freunde wollten das gerne mit uns feiern. Ob wir uns um zehn vor Elf am Institut treffen könnten? Ich bin vor über einem Jahr mit Annette und Farah schon mal dorthin eingeladen worden, als er in einer Theateraufführung (Oscar Wilde auf englisch) mit auftrat. So wusste ich noch ungefähr, wie wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin gelangen. Aber beim „Ungefähr“ bin ich immer recht unsicher. Wie viele Haltestellen mit der Marschrutka waren es noch mal? Ich fragte den Busfahrer „Kommen wir mit Ihrem Bus zum Institut für Journalistik?“ – „Ja.“ brummte er und ich legte für uns fünf einen Zwanzig- Griwen- Schein hin, auf den ich etliche Zweier- Scheine herausbekam. Im rasant anfahrenden Bus taumelte ich auf den Platz, den Friedrich mir freigehalten hatte. Kaum saß ich, drehte sich ein unauffälliger Mann zu Ralf um: „Erinnern Sie sich, dass ich am 20. Februar in der Institustka- Straße neben Ihnen gestanden habe? Ich habe Ihnen damals meine Visitenkarte gegeben…“ Von hinten wurde mir ein weiterer Zwanzig- Griwen- Schein gereicht, das Mädel hinter mir bat mich, ihn weiter zu geben, damit ihr Fahrpreis beglichen werde. Das praktiziert man auch in einer völlig überfüllten Marschrutka so. Sogar mit einem Zweihundert- Griwenschein. Der wird dann von Fahrgast zu Fahrgast weiter gegeben. Das genau abgezählte Wechselgeld kommt alsbald auf dem gleichen Wege zurück. Phantastisch und unbürokratisch funktioniert dieses System, ich bin immer wieder beeindruckt. Indessen tauscht Ralf mit dem Mann noch einmal Kontaktdaten und ich versuche, angestrengt aus dem Fenster sehend, die richtige Haltestelle frühzeitig zu erkennen. Aber das brauche ich gar nicht. Zum Einen erkennt Ralf, der niemals dort war, das Gelände sogar vor mir, zum Anderen ruft der Fahrer extra für uns die Haltestelle aus. Man kann in diesem Lande einfach als Ausländer nicht verloren gehen. Mit uns steigt auch der Mann aus. Es stellt sich heraus, dass er als Fotograf zur gleichen Veranstaltung geladen ist. Wir sind so früh dran, dass wir uns auf einer der Bänke im weitläufigen Vorhof niederlassen und die verschiedenen Kleider und Schuhe der gestylten jungen Damen diskutieren können. Unglaublich, diese kilometerhohen Nadelspitzenabsätze! Mit supereleganten Hochplateauabsätzen bewegen sich weitere Mädels nicht natürlicher. Auch ihre Kleider entsprechen nicht ganz unserem Geschmack, die Mehrzahl würden wir eher in einem Nachtklub erwarten. Ein längeres, „anständigeres“ Kleid ruft trotzdem unseren Spott hervor, es hat ein Gardinenmuster, das in den sechziger Jahren aktuell gewesen sein mag. Seine Besitzerin hat ihr sehr langes Haar in mittegroße Kringellocken legen lassen, sodass der Morgenmantellook ihre Schönheit nicht trüben kann. Von den jungen Männnern trägt, soweit ich es sehen kann, nur ein Einziger ein Wyschiwanka.

Unsere Freunde sind mit dem Taxi gekommen und im Verkehr hängen geblieben. Sie kommen gerade noch rechtzeitig, aber außer Atem an. Wieder war der Verkehr unkalkulierbar. Ich erzähle meiner Freundin von unseren Betrachtungen über die Modenschau und sie flüstert mir zu: „An den exklusiven Autos, die da vorne parken, kann man sehen, wer hier studiert.“ Sie führt uns in die riesige Aula, die schon gut gefüllt ist, findet aber noch sieben Plätze nebeneinander für uns alle, ruft per Telefon ihren Sohn, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist, damit er uns begrüßt. Das tut er auch, eilt dann aber wieder zu seinen Kameraden. Mit Recht können unsere Freunde stolz auf ihn sein, etwas später erfahren wir, dass er wegen seiner guten Leistungen einen der ersten Plätze in seinem Fach belegt.

Auf der Bühne nimmt ein Kollektiv älterer Herren Platz. Nach einiger Zeit beginnt die Veranstaltung. Wir alle stehen zur Nationalhymne auf. Nur ein Teil der Dozenten legt dabei seine Hand aufs Herz. Der erste Teil der Hymne ist instrumental, gegen Ende hören wir rechts hinter uns eine große Gruppe inbrünstig mitsingen. Die Mehrheit im Saal scheint zu schweigen. Danach nehmen alle Platz, bis auf den etwas jüngeren Herrn vorne in der Mitte, der eine Rede auf Ukrainisch hält. Relativ lang und schmucklos. Soweit ich es verstehe, preist er im Wesentlichen die Vorzüge des Instituts an. Gegen Ende erwähnt er „die gegenwärtige Situation in unserem Staat“ und den Wunsch, dass die Absolventen ihre Kenntnisse zum Wohl dessen einsetzen mögen. Ich bin verwundert über die Gewichtung der Themen der Rede, finde sie etwas lieblos, aber das mag auch daran liegen, dass ich im Ukrainischen nicht alles verstehe. Zu meiner großen Überraschung kündigt er nun an: „Wir haben 80 Absolventen. Um die Veranstaltung nicht zu lang auszudehnen, bitte ich jetzt die Absolventen der verschiedenen Fächer, sich in folgenden Räumen einzufinden…“ Alsbald summt und wuselt es im Publikum wie in einem Bienenhaus, der größte Teil des Publikums verlässt den Saal, die übrig Bleibenden kommen in die vorderen Reihen. Wir haben Glück gehabt und können einfach sitzen bleiben. Auch auf dem Podium gibt es nun einen Wechsel. Zu zwei grell gekleideten und ebenso grell frisierten älteren Damen gesellt sich ein stattlicher Herr im grauen Anzug. Meine Freundin erklärt uns später, er sei der Dekan des Instituts. Er ist direkt von der Vorbereitung der Unterlagen für das Assoziierungsabkommen gekommen, deshalb sei er erst jetzt zur Veranstaltung gestoßen. Ihrem Jungen war es leicht, bei ihm zu studieren, weil er mit den Studenten auf Augenhöhe umging. Eine der grellen Damen begibt sich jetzt an der linken Seite der Bühne ans Mikrofon, fragt: „Na, fangen wir an?“ und als kein Widerspruch eingelegt wird, beginnt sie, die Namen der Studenten zu verlesen. Emotionslos und so langsam, dass auf Wunsch bei jedem geklatscht werden kann, bei einigen wird sogar gejohlt. Doch viel zu schnell, als dass der Name auch wirklich mit dem jungen Menschen zusammenfällt, der im gleichen Moment auf der rechten Seite des Podiums aus der Hand des Dekans sein laminiertes Diplom erhält, das er dann gut sichtbar zeigt und einen feierlichen Moment für die Kamera stehen bleibt. Allen schüttelt der Dekan die Hand, das Gardinenkleid nimmt er sogar in den Arm. Soweit ich es beobachte, ist dieses Mädel das Einzige, das zweimal ein Diplom überreicht bekommt. Bei einem jungen Mann ist offensichtlich das Zeugnis mit dem eines Anderen versehentlich vertauscht worden. Es wird herbei gebracht. Ein wenig gelacht. Der Sohn unserer Freunde nimmt sein Zeugnis entgegen. Aufrecht uns stolz, wie fast alle anderen, schreitet er vom rechten zum linken Ende der Bühne und lässt sich nachher noch mehrere Male zusammen mit seinem Freund und ihren Diplomen fotografieren. Ihn zu filmen gelingt uns leider erst nach dem entscheidenden Moment der Übergabe, weil ausgerechnet da ein baumlanger Schlingel sich direkt in der Reihe vor uns niederlässt. Schade!

Interessant ist die Abschlussrede des Dekans. Er erwähnt, dass eine neue Zeit angebrochen ist. „Denn in unserem jungen Staat ist der neue Präsident zum ersten Mal einer der Unseren.“

Herzklopfen bekomme ich bei diesen Worten und lasse sie mir nachher von meiner Freundin erläutern: „Das bezog sich darauf, dass der Präsident eben dieses Fach an diesem Institut absolviert hat. Er hat auch gesagt, dass wir deshalb darauf hoffen können, dass das internationale Recht in der Ukraine jetzt weiter entwickelt wird.“ Und mit Bedauern weist er darauf hin, dass aufgrund der prekären finanziellen Lage des Staates die Mittel für die folgenden Semester radikal beschränkt wurden. Meine Freundin erklärt mir beim Mittagessen, dass das vor allem die Budget- Plätze, also Studienplätze für Stipendiaten betrifft. Die Studiengebühr beträgt eine fünfstellige Summe, wer kann sich das schon leisten? Für ihren Jungen hofft sie, dass er aufgrund seiner hervorragenden Zensuren und seines roten Diploms trotzdem zur Magistratur zugelassen wird. „Ja, man kann hier zum Glück mit ehrlicher Arbeit etwas erreichen. Obwohl es leider auch an diesem Institut Korruption gibt.“ Vor meinen Augen ziehen noch einmal die stolzen Absolventen vorüber und ich versuche mir das Gefühl vorzustellen, dass ein Kind reicher Eltern hat, wenn es für seine gekauften guten Noten ausgezeichnet wird. Welch ein gigantischer Selbstbetrug! Welch katastrophale Folgen für das Land, das doch auf gut ausgebildete Spezialisten angewiesen ist! Es muss ein großes Gebetsanliegen bleiben, dass den wirklich begabten jungen Menschen mehr Chancen auf eine gute Ausbildung eingeräumt werden. „Die Sprachenabteilung ist erst vor kurzem erweitert worden, in der Hoffnung auf viele ausländische Studenten. Aber wer möchte in einer solchen Situation sein Kind in der Ukraine studieren lassen? Da sind noch weitere finanzielle Einbrüche zu erwarten, wenn diese Studiengebühren ausbleiben.“ sagt meine Freundin später besorgt.

Jovial beendet der Dekan seine Rede. Die Lage des Landes hat er gewürdigt. Nun fragt er: „Haben Sie noch Fragen?“ Schweigen im Saal. „Keine Fragen? Nun, Gott sei Dank!“

Nachdem wir unserem Absolventen gratuliert haben, führen uns unsere Freunde in ein hübsches ukrainisches Restaurant im ersten Stock in einem unansehnlichen Gebäude schräg gegenüber. Wir haben unseren Kindern vorher eingeschärft, beim Bestellen unbedingt den Preis zu beachten, um unsere Freunde nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Als wir die Speisekarte in der Hand haben, bemerkt unsere Freundin schnell unser Zögern und schlägt uns Vorsuppen und Hauptgerichte vor. Für uns alle bestellt sie auch köstliches Dessert. Wir sitzen gemütlich und stilvoll. Genießen die wohlschmeckende Okroschka, eine kalte, erfrischende Gurkensuppe mit Radieschen und viel Dill. Erst beim Essen bemerke ich, dass sie für sich selbst kein Hauptgericht bestellt hat. Der Platz unseres jungen Helden bleibt leer. Er hat es vorgezogen, mit seinen Freunden spazieren zu gehen. Das Essen ist mundet hervorragend. Durch die großen Glasscheiben beobachten wir das Treiben vor dem Institut und sehen, wie der Himmel sich mit düsteren Wolken bezieht.

Ich frage meine Freundin, weshalb ich nur eine einzige Wyshiwanka gesehen habe. „Ich denke, es hängt damit zusammen, dass das Institut früher die ehemalige Ausbildungsstätte des KGB war. Bei einer Abschlussfeier der Mohyla- Akademie haben gewiss alle ihre Wyshiwanka an…“ Sofort denke ich an die Worte „Der Präsident ist einer der Unseren.“ Meine Freude relativiert sich.

Meine Freundin hat die Feier sehr bescheiden gefunden. „Wahrscheinlich war das wegen der Situation im Lande. Ich habe eigentlich bei niemandem so rechte Freude gesehen.“ Ihre Familie in der Ostukraine hat mit Grauen auf diesen 27. Juni gewartet.

Heute, am 28. Juni ist Staatsfeiertag. Eine andere Freundin sagt mir am Telefon, dass sie sich nicht aufraffen kann, zur Dampferfahrt mitzukommen. Irgendwie passt so etwas nicht zum Krieg, findet sie.

Mit den mitkommenden Kindern werden wir auf dem Dampfer Postkarten für die Soldaten der Nationalgarde malen. Zur moralischen Unterstützung, wie die junge Frau, die das angeregt hat, mir gestern sagte. Vor einem Jahr noch hätte ich meine eigenen Kinder von so etwas fern gehalten. Es hätte sich nicht mit meinem Pazifismus vertragen Jetzt denke ich an die tapferen Menschen, die da ohne schusssicher Westen und mit viel zu wenig Unterstützung vom Staat darum bemüht sind, der Ukraine Ruhe vor den Terroristen zu schaffen. Und ich denke daran, dass es dort in der Ostukraine auch mit um die Sicherheit Europas geht.

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