Charis Haska: Eigentümerversammlung
Original: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/651393588260669
Eindringlich hat mein Nachbar mich eingeladen, heute Abend zur Eigentümerversammlung zu gehen, wo wieder mal die Zukunft unseres Hauses besprochen werden soll. Es komme ein Deputat und vielleicht entscheide sich irgendetwas zu unseren Gunsten. Ich sagte, dass ich da sowieso wieder nichts verstehe, weil die Versammlung doch sicher wieder auf Amtsukrainisch stattfindet. Und dass meine kleine Stimme da auch nichts bewirkt. „Leider denken alle so. Und dann bewegt sich auch nichts.“ redete er mir ins Gewissen.
Am Morgen beim Hundespaziergang stelle ich fest, dass wir mal kein neues Wahlplakat am Schwarzen Brett hängen haben. Das von vorgestern, das ziemlich sofort zu mehr als der Hälfte von dem der nächsten Partei überklebt wurde, hängt noch mitsamt seiner „Verzierung“. Von beiden Parteien hab ich nie zuvor etwas gehört, aber ich sehe die Plakatkombination an vielen Türen, das eine blau- gelb, das andere mit einem Fliederfoto. Als ich die Kinder verabschiedet habe, komme ich an der noblen Bauruine neben unserer Einfahrt vorbei und stutze: Höher als in Augenhöhe hängt dort ein weiteres ähnliches Plakat, das aber von einem computergedruckten Zettel zum Teil überklebt ist. Der Gehsteig ist dort unbequem gestuft, sodass kaum einer seine Schritte so lenkt, dass er ihn gut lesen könnte. Ich recke mich und erfasse in dick gedruckten Buchstaben: „Werte Nachbarn, kommen Sie heute Abend zur Eigentümerversammlung in den Hof des Gymnasiums in der Kruglouniversitetskastraße. Es geht um das Schicksal Ihres Hauses. Zugegen sein werden der Deputat Lewschenko und Jemez.“ Merkwürdig. Die Versammlung sollte doch in unserem Hof sein? Und hatte der Nachbar nicht einen völlig anderen Namen genannt? Und: Warum hängt man eine solche Einladung oberhalb der Augenhöhe an ein seit über vier Jahren unbewohntes Haus? Welche Nachbarn sollen bitteschön ahnen, dass sie eingeladen sind? Ich argwöhne, dass sich da etwas gegen uns zusammenbraut und nehme mir vor, den Nachbarn darauf anzusprechen. Ich treffe ihn ja mindestens dreimal täglich rauchend im Treppenhaus. Denke ich. Heute ist er nicht zu sehen. Später dringt schöne, laute Rockmusik durch unsere schalldichten Wände und ich verstehe, dass dieser Nachbar heute einen seiner emotionalen Tage hat. Das sind die Tage, in denen gewöhnlich unser Treppenhaus nach ausgeatmetem Wein zu riechen beginnt. Noch riecht es nicht. Aber Rockmusik gabs von dieser Seite bisher immer in dieser Kombination.
Am Mittag führe ich unseren Hund aus. Valera erzählt mir von der neuen „Formierung“ in unserer Kirche. Den Ausdruck verstehe ich nicht. So erläutert er, dass ja das Lazarett jetzt eingefroren wird. Stattdessen versammeln sich nach ihren Vorlesungen jetzt aber täglich um die Mittagszeit fleißige Studentinnen im Gemeinderaum im Obergeschoss der Kirche und helfen dabei, die Daten sämtlicher Verletzten vom Maidan aufzunehmen und Anträge auf Hilfsleistungen für sie fertig zu machen. „Natürlich bekommen sie auch Hunger und so fällt mir die Rolle des Chefkochs zu.“ Ganz glücklich ist er damit nicht: Er kann zwar kochen, ist aber der Meinung, dass Gott diese Aufgabe doch eher den Frauen zugedacht hat. Ich erwähne, dass Ralf sehr gut kocht. Das bleibt aber unkommentiert.
Ich freue mich der Heckenrosen in der Kruglouniversitetska und der Hund genießt eine Salatmahlzeit an der hoch wuchernden Hundewiese. Vom ehemaligen Kino „Freundschaft“ aus habe ich einen wunderbaren Blick auf den Kreschtschatik, wo seit einigen Tagen das Kaufhaus ZUM nun restlos von der leuchtenden ukrainischen Flagge verhüllt ist. Aufschrift: „Einiges Land“. Auf Russisch und auf Ukrainisch. Die Losungen von neulich, die Achmetows Verrat an der Ukraine anprangerten, sind nicht mehr zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Uliza Bogdana Chmelnizkogo ist das Eckhaus von weißen Stoffbahnen umkleidet, auf denen in riesigen Buchstaben steht: „25. Mai: Deine Stimme ist entscheidend!“ Ich überlege, welche Partei da für sich wirbt. Weiß war doch sonst die Batkiwschina? Dann sehe ich die Losung darunter: „Von neuem leben“. Ach so, Poroshenko…
Abends erzähle ich unserer Klavierlehrerin von meiner Unlust, zur Versammlung zu gehen. Ja, bei ihnen sei auch eine solche Versammlung gewesen, mit Bondarenko. Sie sei aber nicht hingegangen. Aber die Tage habe sich ein verängstigter Kater in einen Baum vor ihrem Haus bis zum fünften Stock geflüchtet und sei da aus irgendwelchen Gründen nicht mehr heruntergekommen. Er habe jämmerlich miaut. Schließlich haben sich mehrere Nachbarinnen zusammengetan und nacheinander alle möglichen Stellen angerufen: Die Wohnungskomission, die Feuerwehr, ja sogar das Ministerium für Ausnahmesituationen. Keine der zuständigen Stellen war bereit, zur Rettung des Katers eine Leiter zur Verfügung zu stellen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat das arme Tier zwei Tage dort um Hilfe gerufen. Dann kamen sie auf die Idee, den Stadtteildeputaten zu bitten, mit der Feuerwehr zu reden. Aber so elementare Hilfe für ein Bürgeranliegen schien ihm nicht notwendig, sodass die Nachbarinnen schließlich zusammenlegten und das Tier auf eigene Kosten von einem Fassadenkletterer retten ließen. Wegen unserer Versammlung rät sie mir dringend, den Nachbarn über die merkwürdige Einladung zu informieren. Denn Lewtschenko gehöre zur Partei der Regionen und das sei doch alles etwas seltsam. Ich gehe also und klingele. Mild und heiter bis melancholisch kommt er an die Tür. Ich trage ihm meine Besorgnis vor, aber er winkt ab: „Ach ich bin schon ganz durcheinander. Wissen Sie, vor der Wahl laden sie alle ein und nach der Wahl haben sie es alle schnell wieder vergessen. Lewtschenko? Kann sein, dass er auch zu unserer Versammlung kommen wollte. Ich weiß es nicht mehr.“ – „Heißt das dann, dass es sich eher nicht lohnt, dahin zu gehen?“ frage ich. „Ja, so wird es leider sein.“ sinniert er. „Dann gehe ich gar nicht erst hin.“ sage ich. „Wissen Sie, ich auch nicht.“ meint er. Ihn scheint heute mehr zu beunruhigen, dass uns seine laute Musik stören könnte.
Um 18.45 Uhr geht ein heftiger Gewitterregen nieder. Ich beschließe, die Versammlung vom Balkon aus zu beobachten. Pünktlich um 19.00 Uhr ist der Schulhof vollgeparkt mit edlen, hochrädrigen Autos. Eine Handvoll Leute ist hinter dem Bauzaun zu erahnen. Um 19.08 Uhr fährt noch ein schwarzer, teurer Wagen vor, aus dem offensichtlich niemand aussteigt. Es sieht nicht aus, als ob heute Abend der Kran abgebaut wird, der wahlweise auf unser Haus oder die Schule stürzen könnte.
Bitte betet um die Gesundung unserer lieben Lazarettärztin! Obwohl es ihr noch nicht gut geht, schleppt sie sich doch täglich in die Kirche, um die zahlreichen Behandlungsbedürftigen vom Maidan medizinisch zu versorgen. Sie möchte doch niemanden angeschlagen in den Kampf entlassen.