Michael Moser: Mein neuer Leserbrief an den SPIEGEL

Michael Moser: Mein neuer Leserbrief an den SPIEGEL

Quelle: https://www.facebook.com/MichaelMoser2601/posts/10201046743485800?stream_ref=10

Michael Moser

Sehr geehrte Damen und Herren,

schon einmal habe ich mich an Sie mit einem Brief gewandt, weil mich ein Beitrag Ihres Mitarbeiters Uwe Klußmann besonders unangenehm berührt hat.

Nun ist ein neuer Beitrag von Herrn Klußmann mit dem Titel „Krise in der Ukraine: Kiews Regierung riskiert einen Bürgerkrieg“ erschienen (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-kiews-regierung-ist-zum-scheitern-verurteilt-a-960461.html#ref=rss).

Man fragt sich einmal mehr, was Herr Klußmann eigentlich mit seinem Text bezwecken will.

Den Versuch einer halbwegs ausgewogenen Beurteilung der Lage in der Ukraine unternimmt Herr Klußmann jedenfalls nicht. Was er hier vorlegt, ist ausschließlich eine ideologisch gesteuerte Meinungsäußerung, die sich unter dem Deckmantel einer journalistischen Expertise verbirgt.

Klußmann ist es wichtig zu unterstreichen, dass die provisorische Regierung die Lage in der Ukraine „nicht unter Kontrolle habe“ und dass Premier Jazenjuk sich weigere, „Konsequenzen aus seiner verfehlten Politik zu ziehen“.

Es stellt sich die Frage, inwiefern man sich angesichts der jüngsten Ereignisse von der Rgierung erwarten kann, die Lage völlig unter Kontrolle zu haben. Unklar bleibt, welche Konsequenzen Jazenjuk denn ziehen soll, außer dafür zu sorgen, dass das Land stabilisiert wird, dass dann Wahlen stattfinden und dass sich die Ukraine in der Folge weiter konsolidiert.

Dass sich Herr Jazenjuk beispielsweise kürzlich an die Bevölkerung im Osten und Süden des Landes wandte und versicherte, das Russische würde in der Ukraine weiterhin geschützt werden und es werde schon im nächsten Jahr eine „Dezentralisierung der Macht“ in Angriff genommen werden, versteht Klußmann offenkundig nicht als „sinnvolle Konsequenzen“. Man fragt sich, warum, da doch vor allem Leute wie Klußmann gerade die angebliche Unterdrückung des Russischen und den angeblich überzogenen Zentralismus unentwegt kritisieren.

Dass sich Klußmann über die Hintergründe des Sprachengesetzes aus dem Jahr 2012 ausschweigt, erstaunt mich nicht. Dass er Jazenjuks Versprechen einer moderaten Föderalisierung als „vage“ abkanzelt, ist wohl nur folgerichtig, wenn man Herrn Klußmanns Gesamtopus in Rechnung stellt. Was aberkann es mehr geben als ein allgemeines Versprechen, nach der kurzen Zeit, in welcher die Regierung an der Macht ist?

Woher will Klußmann wissen, dass Jazenjuks Appell „wirkungslos“ geblieben sei? War dieser Appell „verfehlt“? War es „verfehlt“, dass Präsident Turchynov die Außerkraftsetzung des Sprachengesetzes nicht zuließ, obwohl dieses Sprachengesetz einst entgegen allen Regelungen der ukrainischen Gesetzgebung und gegen den Rat der Venedig-Kommission und der OSZE durchgeboxt worden war?

Hat Herr Klußmann übersehen, dass es auch im Osten und Süden der Ukraine nicht nur Demonstrationen für Putin, sondern auch keineswegs immer kleinere Demonstrationen für den Verbleib bei der Ukraine gab?

All dies zu verschweigen, ist eine unzumutbare journalistische Fahrlässigkeit.

Ich fahre fort:

Herr Klußmann behauptet: „Die meisten Menschen im russischsprachigen Osten der Ukraine glauben den Versprechungen des Regierungschefs einfach nicht.“

Hier würde man doch gerne wissen, ob sich Klußmann auch nur auf irgendeine repräsentative Umfrage stützen kann. Nein – alles ist angeblich genau so, wie Herr Klußmann es sehen möchte!

Insgesamt frage ich hiermit: Hat Klußmann denn überhaupt eine Ahnung, wovon er in Ihrer geschätzten Zeitschrift schreibt?

Wie kann ein Journalist vom Fach behaupten, der Osten der Ukraine sei schlichtweg russischsprachig? Hat sich Klußmann irgendwann mit den öffentlich zugänglichen Daten der ukrainischen Volkszählungen beschäftigt? Weiß er nicht, dass das Ukrainische auch im Osten und Süden der Ukrainische von großen Bevölkerungsanteilen als Muttersprache angegeben wurde (Im Oblast Cherson z.B. liegt ihr Anteil bei 79%!!!)?

Auch Klußmanns Teilung der Ukraine in einen „nationalukrainischen Westen“ und einen „russlandfreundlichen Osten“ ist eine fahrlässige Vereinfachung, deren apodiktische Formulierung vor keiner einzigen Meinungsumfrage der letzten Jahre bestehen kann.

Herr Klußmann sollte, bevor er weiter für Sie arbeitet, endlich seine Hausaufgaben machen und seriöse journalistische Arbeit betreiben. In einer für die Ukraine so schwierigen Zeit sollten die Journalistinnen und Journalisten bitte noch verantwortungsvoller arbeiten als sonst, nicht aber im Gegenteil.

Herr Klußmann kritisiert, dass die Partei „Svoboda“ eine verhältnismäßig große Rolle in der Regierung spielt. Dem könnte man beipflichten. Die Partei aber schlichtweg als „rechtsextrem“ abzustempeln, ist eine erneute Manipulation, denn international renommierte Politologen sehen den Fall weitaus differenzierter als Herr Klußmann, der auf Schritt und Tritt unter Beweis stellt, wie wenig Ahnung er von seinem Gegenstand hat. Kommt Klußmann dann auf den Vizepremier zu sprechen, so kritisiert er nicht etwa diesen, sondern verweist auf einen Zwischenfall, mit dem der Vizepremier selbst nichts zu tun hat, der in der Ukraine einhellig verurteilt wurde (selbst innerhalb der eigenen Fraktion) und den manche gar als eine von Moskau initiierte Provokation erachten wollten (ob dies stimmt, kann ich nicht beurteilen).

Klußmanns Vorwurf, Jazenjuk beurteile die Lage „unrealistisch“, weil die Konflikte im Osten von äußeren Kräften geschürt würden, erstaunt mich nachhaltig. Klußmann behauptet, es seien nur die Ukrainer, die „zu Zehntausenden gegen die Regierung auf die Straße“ gingen, und bietet keinerlei konkrete Zahlen der Demonstrierenden (vorher hat er ja noch zutreffend von Tausenden gesprochen), die in Wirklichkeit weitaus niedriger liegen. Klußmann verschweigt die Gegendemonstrationen. Vor allem erwähnt er nicht, dass es konkrete Hinweise darauf gibt, dass unter den russlandfreundlichen Demonstranten häufig große Mengen russischer Staatsbürger zu finden waren, die mit Bussen aus den Grenzregionen nach Donecʼk, Charkiv oder Luhans’k transportiert wurden. Er erwähnt mit keinem Wort, dass der Mann, der in Charkiv die russische Fahne hisste, ein russischer Staatsbürger ist, dessen Bewunderung für Adolf Hitler dokumentiert ist. Er merkt nicht an, dass auch der Anführer des russlandfreundlichen Mobs in Donecʼk ein „ehemaliger“ Neonazi ist.

Er erwähnt nicht, was Russlandfreundlichkeit in der Ukraine heute meistens heißt: Stalinverehrung, Sowjetnostalgie und russischer Nationalismus, der während der letzten Jahre immer deutlicher geradezu faschistische Züge angenommen hat.

Klußmann meint, diplomatische Formulierungen unbedingt in extreme umgestalten zu müssen; berechtigte Bedenken einer vom Bundeskanzleramt mitfinanzierten Stiftung betrachtet er als „Fazit eines Fiaskos“. Klußmann zieht daraus den Schluss, dass die Regierung der Ukraine „unweigerlich zum Scheitern verurteilt“ sei, und setzt damit einen weiteren empörenden Schritt in seiner abgeschmackten Hetzkampagne gegen das flächenmäßig größte ausschließlich in Europa gelegene Land, dessen Bevölkerung gerade um Konsolidierung bemüht ist.

Eine Art Journalismus wie jene von Uwe Klußmann, die klar interessengesteuert ist, sollte in der Welt des deutschsprachigen Journalismus keinen Platz haben.

Michael Moser

Professor für Slawische Philologie

Universität Wien, Katholische Péter Pázmány-Universität Budapest/Piliscaba, Ukrainische Freie Freie Universität München

Präsident des Internationalen Ukrainistenverbandes

P.S.: Freunde von mir haben eine Petition auf Avaaz gestartet.
Sie sollten von ihr wissen:

https://secure.avaaz.org/de/petition/Spiegel_offizielle_und_oeffentliche_Entschuldigung/?fbss

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1 Response to Michael Moser: Mein neuer Leserbrief an den SPIEGEL

  1. justice says:

    Mir vermittelt der Text des Herrn Klußmann den Eindruck, dass alles, was von ukrainischer Seite zur Stärkung und zum Wohl der Nation unternommen wird, falsch ist. Doch das ist es mit Sicherheit nicht! Hat Herr Klußmann irgendwo in seinen Artikeln erwähnt, dass der angebliche Bruderstaat Russland neben der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim, sich auch fast die gesamte Ukrainische Marine angeeignet und Tausende UkrainerInnen von der Krim vertrieben hat? Das überzogene Titelbild von der Ausgabe Nr. 11 zeigt deutlich die Übertreibung zugunsten Russlands, aber wer die wahren Fakten kennt, weiß, dass sich der Brandstifter stark die Finger verbrennen wird, vorausgesetzt, NATO, USA, EU u.a. sind ernsthaft zur militärischen Hilfe bereit.

    Mit der Gegendarstellung Professor Mosers wird einmal mehr deutlich, weshalb es sich bei den Ukrainern um ein bedrohtes Volk handelt. Die enormen russischen Truppen werden sich gewiss nicht zum Spaß an der ukrainischen Grenze aufhalten und im Text des Herrn Klußmann wird jegliches Wort über nationale Einheit innerhalb der ukrainischen Bevölkerung vermieden, obwohl diese klar gegeben ist. Der in Kriegsgefahr befindlichen Ukraine mit einem Massenmedium auch noch derart unerträglich in den Rücken zu fallen, hat nach meiner Meinung schon etwas mit Niederträchtigkeit zu tun.

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