Europa stirbt aus Angst um seinen Wohlstand
27. Jan. 2014, 18:24
DIE WELT
Keine Landkarte kann die Einsamkeit ermessen, in der sich die Ukraine befindet. In Polen verblasst die Farbe der Orangenen Revolution. Haben wir den Glauben an den Sinn gegenseitiger Hilfe verloren?
Von Andrzej Stasiuk
Demonstranten versuchen Sturm auf weitere Gebäude

Quelle: Reuters Nachdem Regierungsgegner in Kiew das Justizministerium besetzt hatten, versuchten am Sonntag auch im Osten des Landes mehrere Tausend Menschen, Gebäude der öffentlichen Verwaltungen zu stürmen.
Ein Bild aus den letzten Tagen: Die Revolutionäre vom Maidan in Kiew haben ein Holzkatapult gebaut. Damit wollen sie die Miliz bombardieren. Wenn wir in Polen “Ukrainer” sagen, denken wir “Kosaken”. Dann erscheint eine tollkühne Reiterei vor unserem geistigen Auge. Aber zumeist haben die Kosaken vergangener Tage als Infanterie gekämpft. Sie waren auch Meister in der Kunst der Belagerung. Sie bauten Belagerungsmaschinen, die “Hulajgorod” genannt wurden und dazu dienten, Tore und Mauern zu durchbrechen.
Jetzt bauen sie also Katapulte. Dieser ganze Maidan, diese ganze ukrainische Revolution, auf Fotografien, im Fernsehen und im Netz wirkt sie wie ein Fantasy-Film, vermischt mit einer katastrophischen Erzählung aus der Zukunft.
Der schwarze Rauch, die brennenden Barrikaden, Revolutionäre mit den Brillen von Panzerfahrern und Wintersportlern, den Helmen von Bauarbeitern, Motorradfahrern und Reservisten, mit Skiausrüstung aus Plastik, Gas- und Totenkopfmasken, in der Verkleidung von Monstern, dazu die Einheiten von Snowboardfahrern, die mit ihren Brettern als Schutzschilden in den Kampf ziehen. Im Hintergrund das rhythmische Schlagen auf Blech wie auf Kriegstrommeln, die Molotow-Cocktails, die kometengleich die Finsternis erhellen, und die Barrikaden aus Schnee, die, mit Wasser übergossen, in der Kälte hart werden wie Mauern.
Mordor steht auf der anderen Seite
All das wirkt wie ein schrecklicher Karneval, wie eine Unheil verkündende Fiesta. Auf der anderen Seite steht Mordor, schwarze Reihen, starr und regungslos, hinter viereckigen Schilden, die von Zeit zu Zeit die römische Schildkrötenformation einnehmen, damit die Milizionäre keine Geschosse abkriegen.
Aber, liebes Europa, lass dich nicht von deinen eigenen Wünschen verführen. Ich weiß, du stellst dir vor, diese Szenen fänden in der Wirklichkeit gar nicht statt. Du glaubst, das sei so ein Mordor, so eine Tatarei auf einem anderen Kontinent. Das sei wohl in Wirklichkeit jenes Russland, das gerade wieder mal mit seinen eigenen inneren Problemen kämpft, also besser nicht einmischen, nicht reizen und nicht stören.
Russland ist groß, und es wird mit dem Problem schon klarkommen. Russland ist immer irgendwie klargekommen. Und wir können doch nicht einen Teil Russlands eingemeinden. Wie würde das aussehen? Dann käme gleich Kalmückien und würde sagen: Wir auch! Kalmückien mit all seinen Kamelen und Jurten, mit den Buddhisten und seiner Wüste.
Keine Landkarte ermisst diese Einsamkeit
Oder, da wir schon von Mordor sprechen: Mordowien. Da haben wir nun die Polen und die Rumänen angeschlossen und bedauern es schon ein bisschen. Außerdem verbrennen diese Ukrainer Autoreifen. Bei uns darf man keine Autoreifen verbrennen, das ist umweltschädigend. Man verwendet auch nicht das knappe Gut Benzin, um damit Ordnungshüter zu bewerfen. . .
Von Berlin nach Kiew sind es 1332 Kilometer. Nach Rom sind es 1500. Nach Paris 1032. Nach Madrid 2300. So sagt es uns Google-Maps. Aber keine Landkarte ist in der Lage, die Einsamkeit zu ermessen und darzustellen, in der sich die Ukraine in diesem Winter befindet. Als 2004 auf dem Maidan die Orange Revolution stattfand, herrschte ein Freudenfest, obwohl der Winter ebenso hart war.
Aus Polen reisten tausende junger Menschen an, um dort den Wandel zu unterstützen. Die wichtigsten polnischen Politiker fuhren hin. Musiker spielten Lieder ein, Künstler veranstalteten Solidaritätshappenings. Damals war die Farbe Orange in Polen allgegenwärtig. In Form von Schals und Kokarden, Kopfbedeckungen und Bändern, die an den Autoantennen flatterten. Die Revolution, so schien es, ist ein fröhliches Fest.
Sogar Polen wartet ab – weil es ernst ist
Heute dagegen, da es wirklich gefährlich ist, da ein echter und nicht nur ein karnevalesker Kampf stattfindet, da Blut fließt und Menschen gefoltert werden, legt sich Stille über den Maidan von Kiew. Sogar mein Land, proukrainisch und allzeit bereit, sich an fremden Aufständen und Revolutionen zu beteiligen – es wartet ab, es schaut zu, es beobachtet.
Als hätten diese paar Jahre in der EU und im Schengenraum uns Kalkül und Vorsicht gelehrt. Wir drängen nicht mehr auf die Barrikaden wie früher. Wir schauen uns um und warten, was der Rest Europas sagt. Ich weiß nicht, was mit uns geschehen ist. Haben wir den Glauben an den Sinn gegenseitiger Hilfe verloren?
Dabei geschehen jetzt auf dem Maidan Dinge, die viel wichtiger und viel gefährlicher sind als 2004. Also wie? Den Ukrainern ist Glaube und Kraft zugewachsen, und uns ist er verloren gegangen? Weil wir inzwischen sicher und satt geworden sind? Warum skandieren wir nicht mehr wie damals: “Kiew-Warschau, Seite an Seite”? Weil der Karneval vorüber ist. Jetzt herrscht Frost, der Gestank von brennendem Kautschuk und Benzin, die Schwärze der Nacht, Einsamkeit und Angst: Greifen sie an – oder nicht? Werden sie töten – oder nicht?
Die Menschen dort kämpfen für uns
Europa ist ein enger Kontinent. Sofern es überhaupt ein Kontinent ist und nicht nur eine Halbinsel. Die Erfahrung von Einsamkeit bei einer solchen Enge von Territorien, Völkern und Städten ist etwas Perverses und Grausames. Polen hat völlige Einsamkeit (mehr noch: Verrat) im Jahre 1939 erfahren müssen. Das ist lange her.
Aber es genügt, sich an den von Fernsehkameras umringten Balkan zu erinnern. Der Balkan war ebenso einsam, und zugleich konnte die ganze Welt zuschauen, wie er zur Schlachtbank geführt wurde. Gegenüber 1939 war das ein großer Fortschritt. Ein Fortschritt an Perversion und Grausamkeit. Wir wiederholten heuchlerisch die Worte: So ist der Balkan eben, so ist er immer gewesen, die Menschen dort mögen das einfach.
Im Falle der Ukraine fällt uns eine solche Heuchelei schwer. Meine Damen und Herren, so ist es leider: Die Menschen dort kämpfen für uns. Wenn Sie glauben, die so genannten “europäischen Werte” seien etwas, das man kaufen und besitzen kann, so sind Sie im Irrtum. Wenn Sie so denken, dann wäre es am besten, Sie würden um diese Halbinsel oder dieses Kap Europa eine Mauer bauen. Um daraus ein Ghetto der Selbstzufriedenheit, der scheinbaren Sicherheit und des pornografischen Wohlbefindens zu errichten. Und um ringsherum Wächter zu postieren, die aufpassen, ob nicht der Rest der Welt näher rückt, um uns auszurauben. So werden wir leben, bis wir eines Tages an Angst, Endogamie und Langeweile zugrunde gehen.
Nicht alles lässt sich besitzen
Ich weiß nicht, was mit diesem Kontinent geschehen ist, mit seiner Energie, seinem Mut, seiner Expansivität, Neugier und Vitalität. Wir waren in der Lage, zu Fuß bis ans Ende der Welt zu laufen, die andere Seite des Erdballs zu erkunden. Ja, wir haben Schreckliches getan, aber auch Großes vollbracht.
Die Welt schaute lange wie gebannt auf diese lächerliche Halbinsel am Ende des Ungetüms, das Eurasien heißt. Heute stehen wir selber am Fenster und schauen ängstlich hinter der Gardine hervor: dass ja niemand, Gott bewahre, plötzlich anfängt, “sich zu denselben Werten zu bekennen”. Und wenn er schon nicht anders kann, dann bitte möglichst weit weg. Am besten in irgendeinem Mordor.
Aber es wird anders kommen. Um Werte wird gekämpft. Nicht alles lässt sich besitzen. Werte kann man nicht mit einer Mauer und Wachttürmen umgeben. Man kann sie nicht zu einer Festung ausbauen wie die Mittelmeerküsten, die gegen Flüchtlinge aus Afrika verteidigt werden. Man kann die Werte nicht an der Ostgrenze Polens stoppen.
Europa stirbt aus Angst
Zur Zeit des Kommunismus hatten wir in Polen ein Rätsel. Es lautete so: “An wen grenzt die Sowjetunion?” Die Antwort: “An wen es ihr gefällt.” Ähnlich ist es heute mit Europa, nur umgekehrt. Anders als die Sowjetunion steckt Europa seiner Nachbarschaft enge Grenzen.
Europa will nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Werte, die es vertritt (oder vertrat?), auch jenseits seiner nominalen Grenzen vertreten werden. Europa zittert geradezu vor solchen Situationen, denn sie bringen nur Ärger. Europa macht sich klein, schrumpft, versteckt sich hinter der Gardine. Wie besessen zählt es Gewinne und Verluste. Europa stirbt aus Angst um seinen Besitzstand. Aus Angst um seine widerliche Ruhe, seinen obszönen Wohlstand, seine ekelhafte Selbstzufriedenheit.
Der ukrainische Winter 2014 ist eine europäische Niederlage. Ich betrachte die Bilder aus dem eisigen Kiew, die Menschen, die bereit sind, für die Freiheit zu sterben, und suche in den letzten Jahrzehnten nach einem “europäischen” Aufbegehren von ähnlicher Kraft. Ich sehe Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968, Danzig 1970. Aber wenn es um die andere Hälfte des Kontinents geht, fällt mir nur der verzweifelte Protest gegen die Gefährdung der Freiheit im Internet ein. Ein jämmerliches Bild.
Aus dem Polnischen von Gerhard Gnauck.
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