Charis Haska: Hauptstadtidylle

Charis Haska: Hauptstadtidylle

Original: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/655630694503625

Ich liebe Morgenspaziergänge in Kiew, bevor die teuren, umfangreichen Fahrzeuge der begüterten Schülereltern vor der an unseren Hof grenzenden Schule den Verkehr blockieren. Kiew sei die grünste Hauptstadt Europas. So haben wir es 2009 im Reiseführer gelesen, ehe wir hierher zogen. Nein, sei es schon längst nicht mehr, sagen die Kiewer. Viele Grünflächen sind inzwischen mit Hochhäusern bebaut worden. Nicht für all diese wurde eine legale Baugenehmigung erteilt. Der Aprikosengarten vor unserem Haus zum Beispiel ist einer solchen Baustelle zum Opfer gefallen. Und doch hat Kiew immer noch viele idyllische, grüne Ecken. Nicht alle Grünflächen werden regelmäßig gemäht und zum englischen Rasen umfunktioniert. Und so gibt es wenige Meter von unserem Hof eine winzige und doch malerische Wiese, auf der neben Pusteblumen und Schöllkraut auch Vogelmiere, Sauerklee und Hirtentäschel wachsen. Margeriten blühen da und roter Wiesenklee. Unterwegs treffe ich eine Hundebesitzerin. Ihr Golden Retriever zerrt sie in Eile weiter. „Dobroe Utro!“ wünsche ich ihr – Guten Morgen auf Russisch. „Dobroe utro!“ lächelt sie freundlich, und auf einmal fügt sie entschlossen hinzu: „Dobry ranok!“ – Guten Morgen auf Ukrainisch. Und schon hat der Hund sie weitergezerrt. Ich überquere die Kreuzung am Präsidentenpalast, wie all die Jahre seit wir hier wohnen, natürlich bei rot leuchtender Fußgängerampel. Denn sie ist so eingestellt, dass man genau dann seines Lebens am sichersten ist. Vom Präsidentenpalast her kommt ja kein Verkehr aus der Uliza Bankowa. Und von der anderen Seite her ist sie doch Einbahnstraße. Schaltet die Ampel hingegen auf Grün, so ist der überquerende Fußgänger Freiwild. Auch wenn der immer gleiche Hüter des Gesetzes danebensteht. Noch nie hat er mich darauf angesprochen, dass es um der Kinder willen trotzdem geraten sein könne, mich an die gültigen Verkehrsregeln zu halten.
Drüben kommt mir ein älterer Herr entgegen, der laut auf Ukrainisch telefoniert und liebevoll in sein Handy hinein lächelt.

Ich lasse das teure Möbelgeschäft links liegen, an dessen Auslagewohnzimmer mit mehreren ledernen Sofas und hochmodernen, urgemütlichen Lampen sich seit vier Jahren und neun Monaten nichts verändert hat und gelange zur nächsten grünen Ecke. Die Linden blühen schon auf, wieder staune ich über die weißen und rosa Heckenrosen. Mein Wolf im Schafspelz tut sich mit einer Salatmahlzeit gütlich. Allen Ernstes hat da jemand so etwas ähnliches wie Dieffenbachien unter die Sträucher ausgepflanzt. Schön, wunderschön! Dort finde ich auch ein kleines Plakat mit einer ausführlichen Einladung zu Kinderferienspielen in einem privaten Kreativstudio, selbstverständlich mit Rabatt, wenn man für fünf Tage bezahlt. Mit dem Mai geht das ukrainische Schuljahr zu Ende. Das neue beginnt im September.

Wegen der Sommerhitze ist die lange Pause einerseits verständlich. Aber andererseits können viele Eltern ihre Kinder nicht zu Verwandten aufs Land schicken. Und so gibt es während der Arbeitszeit ein Betreuungsproblem, über das sich der Bildungsminister möglichst noch während seiner Amtszeit mal Gedanken machen könnte. Die staatlichen Schulen bieten zwar im Juni noch ein Programm mit Exkursionen an, sodass rund um unseren Hof noch keine Sommerstille eintreten wird. Aber das deckt nicht die gesamte Arbeitszeit ab. Wie werden die Ferien von Kindern alleinerziehender Mütter verlaufen, die irgendwo in einem Außenbezirk in einem zerfallenden Hochhaus im achten Stock wohnen?

Vor mir bringt eine Mutter ihr Töchterchen zur Schule. Unter dem dunkelblauen Schuluniformkleidchen trägt es eine Art Petticoat, im Haar eine große, weiße Schleife. Gestern hab ich ein Mädel getroffen, das mit einem Schuluniformkleid in Mini bekleidet war, kariert, es bedeckte den Po knapp. Bei Iren Rosdobudko hab ich in einem Roman gelesen, wie die Ukrainerinnen sich behelfen, wenn das Geld für die Schuluniform nicht reicht. Dann wird das Kleidchen umgeschneidert, ein Streifen Stoff eingesetzt, jedes Jahr von neuem. Das Mädchen mit dem Minikleid war nicht jünger als zwölf. Wie lang sie das Kleid wohl schon hat?

Der kluge Kopf, der unter uns wohnt, hat seine optimistische Stimmung wiedergefunden. „Was sagen Sie zu unserer Wahl?“ wollte er gestern wissen. Ich hab mich bemüht, ihm meine indifferente Meinung möglichst pointiert darzulegen. Aus seiner Stimme und aus seinen Augen hingegen sprach Begeisterung und Euphorie: „Sehen Sie nur! Schon beim ersten Wahlgang hat es einen klaren Sieg für Poroshenko gegeben. Und die Rechten haben überhaupt nur ein lausiges Prozent der Stimmen erhalten. Und was hat Russland doch vorher in seinen Medien für Stimmung gemacht! In der Ukraine würden mehr als 39 Prozent die Faschisten wählen.“ Ich verstehe seine Begeisterung nicht ganz. „Aber Poroshenko steht doch in der Gefahr, wieder bloß in die eigene Tasche zu wirtschaften, er hat doch auch sein Business in Russland.“ wende ich ein. „Natürlich! Selbstverständlich!“ sagt er gutgelaunt. „Und er wird außerdem noch ein Business in Polen aufbauen und wer weiß, wo sonst noch. Und es wird noch einen Maidan geben und noch einen Maidan und noch einen Maidan.“ Noch hab ich nicht begriffen, worauf er hinaus will. „Aber das Entscheidende ist,“ sagt er, „dass die ukrainische Gesellschaft gezeigt hat, dass sie sich stark machen kann. Denken Sie nur, sechzig Prozent Wahlbeteiligung! Und kaum Stimmen für den Rechten Sektor. Die Leute haben gezeigt, dass Politik ihnen nicht mehr egal ist. Und sie werden es nicht zulassen, dass die Regierung ihr Land zugrunde richtet. Sechzig Prozent, das ist doch was im Vergleich zu eurer Europawahl!“ Von dem scherzhaften Referendum in Odessa neulich (darüber ob Rostow am Don der Ukraine angegliedert werden sollte) hat er nichts gehört. Er lacht herzlich darüber und erzählt mir auch einen Witz. Auch von vor der Wahl. Es geht um die zu erwartende Stimmenzahl des Präsidentschaftskandidaten: „Fragt jemand: <Onkel, hast du schon gehört, wie sie in Russland Poroshenko nennen?>“ Ich überlege fieberhaft und komme zu keinem Schluss. Er lacht los: „<Jarosch!>“

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