Charis Haska: Selbstversorger

Charis Haska: Selbstversorger

Original: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/650330591700302

Schwere Gewitter sind in den letzten Tagen, oder besser gesagt, Nächten über Kiew herein gebrochen. Zwar habe ich unsere deutsche Redewendung im Hinterkopf: „Mairegen bringt Segen“. Doch in den letzten Jahren zeigte sich der Mai eigentlich heiß und trocken, während eher der Juni dann regnerisch war. In der Natur scheint in diesem Jahr alles um einen Monat zu früh zu kommen.

Manche haben mir erzählt, dass sie wegen der Gewitter nicht schlafen konnten. In der einen Nacht habe auch ich wach gelegen und mir voller Angst ausgemalt, was passieren könnte, wenn der Blitz in den Kran einschlagen sollte, dessen Arm über das Dach unseres Hauses ragt. Ich versuchte mich damit zu trösten, dass die Feuerwehrstation nur zehn Minuten zu Fuß von uns entfernt ist und in der Nacht wenigstens nicht damit zu rechnen ist, dass die vorsintflutlichen Feuerwehrautos im Stau auf der Luteranska steckenbleiben.

Bedrückend still ist die Stadt. Gestern war es tagsüber etwas belebter, denn Kiew hat den Europatag gefeiert. Es gab sogar eine Demonstration vom Goldenen Tor bis zum Marinski Park von Tausenden von Leuten, die stolz ihre Wyshiwanki trugen, ihre wunderschönen gestickten Hemden und Blusen. Ich frage mich immer wieder, woher die Menschen bei ihrem schweren Leben noch Zeit und Kraft zum Sticken nehmen. Aber diese Handarbeit ist wirklich sehr populär hier. Schon oft habe ich Frauen auf dem Markt kunstvoll sticken gesehen, während sie auf Kunden warteten.

Heute früh also war die Stadt um sieben Uhr morgens wie ausgestorben. Nicht einmal Dworniki (Straßenkehrer) waren zu sehen. Unheimlich. Ich hatte das Bedürfnis, auf dem Rückweg meines Hundespaziergangs bei unserer Kirchenwächterin hereinzuschauen.

Vor der Kirche war alles schon sauber gefegt und drinnen duftete es nach dem leckeren Mittagessen, das sie über Nacht für die Gemeinde vorbereitet hatte. Wir wechselten ein paar Worte im Korridor, da kam aus dem Dunkel der Kirche Wassilij Stepanowitsch auf uns zu. Er ist jetzt fast drei Monate in unserem Lazarett gewesen, weil seine Schusswunde einfach nicht abheilen wollte. „So, fertig!“ sagte er. „Dann geh ich mal.“ Er hatte ein armseliges Bündel im Arm, vielleicht eine Hose in einen Pullover gewickelt. „Vielen Dank für alles. Ich gehe dorthin.“ sagte er. „Wie?“ fragte ich. „Auf den Maidan?“ – „Naja, so ähnlich. Zum Dienst.“ sagte er. „Das heißt, Sie gehen endgültig?“ fragte ich verwirrt. „Ja.“ war die Antwort. „Vielen Dank dafür, dass ich hier sein durfte, vielen Dank für all die Hilfe, die ich erfahren habe!“ – „Aber…“ stotterte ich, „Ihre Wunde, ist die denn jetzt abgeheilt?“ – „Nein. Nicht so ganz. Aber sie sagen, es kommen auch Ärzte dorthin, die das weiter behandeln.“ In meinem Hals bildete sich etwas wie ein dicker Kloß. Ich dachte daran, dass ich seiner großen Familie gern beim Neuanfang geholfen hätte, aber rein gar nichts dazu beitragen konnte. Ich dachte daran, dass er sich weiter gegen die Ungerechtigkeit und Korruption im Lande einsetzen will. Das hatte er ja immer gesagt. Ich dachte an seine Frau, die dort in der Ferne auf dem Dorf seit Monaten allein Haus und Hof versorgt und mit der er jeden Morgen und Abend zärtlich besorgt lange telefoniert; daran, dass er für die Zukunft seiner Kinder und Enkel kämpft. Dieser unscheinbare, bescheidene Mann ist ein Held. Wie gern würde ich ihm etwas mit auf den Weg geben, das ihn und seine Familie schützt und ihnen Hoffnung Perspektive gibt. Und allen, die ähnlich denken und handeln, wie er. Stattdessen suche ich verkrampft nach Worten, bringe nicht mehr, als ein „Passen Sie gut auf sich auf!“ heraus. Nicht mal ein „Wse bude dobre – Alles wird gut.“ Ich möchte, dass alles gut wird. Ich möchte, dass Leute wie Wassilij Stepanowitsch und ihre Familien unter menschenwürdigen Bedingungen leben dürfen, dass sie nicht länger ausgesaugt und ausgenutzt werden. Gleichzeitig merke ich, dass ich zur Zeit wenig Hoffnung habe, dass alles gut wird. Das verursacht mir eine tiefe Traurigkeit, die den ganzen Tag nicht weichen will.

Weg ist er. Und Valentina, die Kirchenwächterin, spricht mir aus dem Herzen: „Wissen Sie, solchen Leuten muss man Hochachtung entgegenbringen. On sprawzhny Ukrainez – Er ist ein waschechter Ukrainer …“ Meine Gebete werden ihn und seine tapfere Frau begleiten. Ralf bestätigt mir später, dass Wassilij Stepanowitsch sich zur Nationalgarde gesellt.

Zum Gottesdienst sind heute sehr wenig Leute da. Das mag mit daran liegen, dass wir gestern Abend den deutschsprachigen Gottesdienst gefeiert haben. Etliche unserer Gemeineglieder legen großen Wert darauf, die deutsche Version des Gottesdienstes zu hören. Unser Diakon Igor Schemigon erklärt mit viel Wärme das Thema des Sonntags Cantate und hält Liturgie und Predigt. Einer seiner neuen, erwachsenen Konfirmanden lässt im Gottesdienst seinen kleinen Sohn taufen. Ralf vollzieht die Taufzeremonie überwiegend in englischer Sprache. Das kleine Junge hält musterhaft still. Erst als Ralf das Köpfchen mit einem weichen Handtuch abgetrocknet hat, tastet er verwundert mit dem Händchen seinen Kopf ab …

Die Buchhalterin überredet mich, zum Mittagessen zu bleiben: „Sehen Sie mal, Valentina hat heute Nacht über hundert Kohlrouladen gewickelt, und nun sind so wenig Leute gekommen.“ Ich argumentiere, dass Annegret zu Hause geblieben ist und ich ihr etwas zum Essen vorsetzen muss. Warum ich sie nicht einfach mit herhole? – Gut, ich rufe also meine Tochter an und schlage ihr das vor. Ihr sind aber die Spaghetti von gestern lieber und sie wünscht mir Guten Appetit. „Eine wunderbare, verständnisvolle Tochter!“ beglückwünscht Natascha mich und nimmt mich mit in den großen Saal. Das Essen schmeckt hervorragend. Ich überlege laut, warum wir heute so wenig Leute sind. Weil alle anderen auf die Datschen gefahren sind? „Die Leute wissen doch nicht, was für Zeiten kommen.“ sagt Natascha. „Ja, die Lebensmittelpreise sind sprunghaft angestiegen!“ stimmt Alexandra zu. Das habe ich gestern selber gespürt. Auf dem Bessarabischen Markt wollte mir eine Händlerin doch glatt Erdbeeren für 125 Griwen pro Kilo verkaufen. Gut, der Bessarabische Markt ist immer teuer. Doch die Erdbeeren sind ja nur ein Beispiel für die Teuerung. Natascha sagt nachdenklich: „Ja, es kann sein, dass durch die Veränderungen eine Hungersnot kommt. Deshalb versuchen die Leute jetzt, in ihren Gärten gut vorzusorgen.“

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