Charis Haska: So unterschiedliche Meinungen!

Charis Haska: So unterschiedliche Meinungen!

Quelle: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/627821220617906?stream_ref=10

Ich bin „po djelam“ unterwegs, also, um bestimmte Angelegenheiten abzuarbeiten. Unterwegs komme ich unweit der Barrikaden am Lesja- Ukrainka – Theater vorbei, das ich seiner hervorragenden Vorstellungen und schönen Atmosphäre wegen so liebe. Das letzte Mal war ich dort mit Annegret (zum dritten Mal im „Eingebildeten Kranken“) an jenem verhängnisvollen 30. November. Für uns ein traumhafter Abend. Das Erwachen am nächsten Tag hingegen, mit den nur langsam durchsickernden Bildern davon, wie Berkut brutal auf friedliche Demonstranten zugreift, hatte den Umschwung von Demonstration zur Revolution markiert.

Jetzt, wo – oberflächlich betrachtet – alles wieder etwas normaler ablaufen könnte, stehe ich verträumt vor den Theaterplakaten, studiere den Spielplan und bekomme große Lust, mit meinem gerade zum Kurs von 15,40 Griwna getauschten Geld Karten zu besorgen. Da läuft mir ein Mann ins Bild, baut sich vor mir auf und fragt in mein ihn Ignorieren hinein: „Darf ich mich an Sie wenden?“ Verdattert mustere ich ihn: Schmutzige Kleidung, beide Augen blau geschlagen. Dann kommt auch seine Alkoholfahne bei mir an. Auf mein „Wahrscheinlich nicht.“ geht er zum Glück gleich weiter. Ein paar Schritte weiter steht im Eingang des Theaters ein älterer Herr, der betrübt seinen Kopf wiegt. „Nein, das ist schon nicht mehr d e r Maidan!“ sagt er traurig. Ich trete näher und begreife anhand der Aufschrift seiner Jacke, dass er ein Bediensteter des Theaters ist. „Entschuldigen Sie bitte,“ sage ich „Gehen die Leute noch ins Theater?“ – „Zu meinem großen Erstaunen- ja! Die Vorstellungen waren die ganze Zeit gut besucht. Mögen Sie nicht auch kommen?“ Er beginnt, mir die verschiedenen Stücke zu empfehlen. Muss er nicht, denn ich möchte ja ohnehin gern wieder Kultur genießen. Wortreich und freundlich setzt er seine Einladung ins Theater fort, bis ich mich mit „Selbstverständlich werde ich kommen.“ verabschiede.

Beim Arzt platze ich in die abschließenden Höflichkeiten der vorangehenden Patientin hinein. In Ermangelung eines Vorzimmers nehme ich im Raum Platz und freue mich an einem ausgesprochen gepflegten Dialog, aus dem ich entnehme, dass die junge Dame Dozentin an der Universität ist. Sie ist schon fast an der Tür, als sie noch ein Anekdötchen zum Besten gibt: „Wir haben im Gang große Bilder europäischer Politiker. Da ist natürlich Merkel zu sehen und auch Hollande. Ja, und mehr in der Ecke noch eine Gestalt, so platziert, dass sie sich von uns abwendet. Ich habe die Kinder beobachtet, als sie die Bilder betrachteten, die Merkel und den Hollande, ja und wer mochte wohl das in der Ecke sein, <Doch nicht etwa gar unser Viktor Fjodorewitsch?> riefen sie aus. Traten näher, drehten das Bild um – und da war es Putin!“ Gespannt lausche ich. „Einen Moment schauten die Kinder ihn an, entsetzt, wie erstarrt. Dann riefen sie aus: <Ach, lasst uns ihn in zwei Teile schneiden, sodass er nicht mehr so groß ist. Soll er doch vor uns knieen für all das Leid, das er der Ukraine antut!>“

Ich frage sicherheitshalber noch mal nach, in welchem Alter die Kinder sind. Sie versteht mich erst nicht, weil man hier auch Halberwachsene ab und zu liebevoll als Kinder bezeichnet. Dann lacht sie perlend los: „Na, Studenten natürlich. Ungefähr zwanzig Jahre. Aber sie sind doch für mich wie meine lieben Kinder…“

Ich bin weiter in der Stadt unterwegs und habe über meine neuen Kontaktlinsen eine grell violette Sonnenbrille gezogen, um meine noch empfindlichen Augen vor dem scharfen Kiewer Wind zu schützen. Mit Winterstiefeln, Winterjacke, blau- gelber Maidanschleife und dazu Friedrichs abgelegter Strickmütze mit einer Laufmasche im Saum sehe ich exotisch und „riskowana“ aus und entspreche keineswegs dem Bild einer gepflegten Dame.

Ich überlege gerade noch, dass der Mann, der mir gerade entgegengekommen ist, mir von irgendwoher bekannt vorkommt. Da kehrt er um zu mir. Er hat mich trotz meiner Ausstattung gleich erkannt und spricht mich auf Friedrich an. Ach, na klar, er ist der Vater eines Mitschülers meiner Kinder, ein ganz netter Ukrainer mit Deutschkenntnissen. Sehr interessiert erkundigt er sich, wie es uns geht. Nachdem wir schon etwa fünf Minuten geplaudert haben, denke ich, das Gespräch ist beendet. Doch weit gefehlt. Jetzt fragt er direkt, welches Gefühl ich bei den aktuellen politischen Entwicklungen habe. Ich skizziere ihm vorsichtig meine Meinung. Im Hinterkopf habe ich den Gedanken an die Höhe des Schulgeldes, die sich leider unter den Ukrainern nur eine reiche Elite leisten kann. Daher weiß ich nicht, wie ich ihn einschätzen soll, denn außer wenigen Sätzen Smalltalk beim Schulfest hatten wir noch nichts miteinander zu tun.

Er sagt: „Ich habe viele Jahre in Russland gelebt, sodass ich Land und Leute gut kenne. Und es will einfach nicht in meinen Kopf, dass Putin so breite Unterstützung beim Volk genießt. Ich kann dass einfach nicht nachvollziehen. Macht er die Leute mit seiner Propaganda zu Zombies?“
Ich sage: „Ich traue ihm nicht über den Weg, selbst wenn er jetzt anfängt, Truppen zurück zu ziehen. Die kann er doch schnell wieder aufmarschieren lassen.“ – „Na, das wird, denke ich, nicht passieren. Aber ich glaube, dass er sich die Ostukraine doch noch unter den Nagel reißen wird. Nicht in einer Blitzaktion wie bei der Krim, das würde ihm wohl kaum gelingen. Nein, er wird eine Destabilisierung der Ukraine anstreben und dann ungefähr in fünf Jahren so etwas wie eine Föderalisierung fordern. Er braucht die Ukraine… Übrigens traue ich auch Merkel und Obama nicht mehr.“ Jetzt fallen mir fast die Augen samt Linsen aus dem Kopf: „Waaas? Wieso denn?“ – „Für mich sieht es jetzt, ehrlich gesagt, so aus, als ob die sich im Geheimen mit Putin abgesprochen haben.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Dazu halte ich zu viel von Merkel.“ sage ich. „Ich befürchte eher, dass sie Putins Sprache und Signale nicht immer ganz einzuordnen weiß und ihm gegenüber zu gutgläubig sein könnte.“- „Und was haben Sie für eine Meinung zu unserer Präsidentschaftswahl?“ fragt er. Ich sage, dass ich nicht so recht weiß, wen ich für den geeignetsten Kandidaten halte. „Was sagen Sie denn dazu, dass Klitschko jetzt diesen Poroshenko unterstützt?“ möchte er wissen. Ich finde das ja eigentlich ganz gut. Er ist aber der Meinung, dass Klitschko damit Verrat am Anliegen des Maidan begeht: „Poroshenko ist ein Oligarch. Er ist durch und durch korrupt. Diese jungen Leute haben ihr Leben dafür gegeben, dass eine Ukraine ohne Korruption aufgebaut werden kann. Man wird doch wohl nicht im Ernst glauben dürfen, dass Poroshenko dafür etwas Konstruktives tun wird.“ Auf meinen Einwand hin, Klitschko sei ebenfalls ein Oligarch, meint er, er habe Hoffnung in Klitschko gesetzt, weil der doch ziemlich westlich eingestellt sei. Ich sage: „Eigentlich würde ich gerne Olga Bogomolets als Präsidentin sehen.“ Er lächelt, als habe er ein Aha- Erlebnis: „Sie ist wirklich eine sehr kluge, ehrenhafte Frau. Aber sie hat zu wenig politische Erfahrung.“

Später befrage ich eine Person meines Vertrauens zu den Meinungen, die ich von ihm gehört habe. Sie hält Klitschkos Entscheidung, nicht zu kandidieren, für sehr gelungen, sagt dass er als geborener Kiewer einen hervorragenden Bürgermeister abgeben wird. Und dass er ihrer Meinung nach zu jung ist, um Präsident zu werden. Und dann erzählt sie, dass die Liste der Präsidentschaftskandidaten inzwischen auf 150 Personen angewachsen sei. „So viele Leute ich kenne, so unterschiedliche Hoffnungen bezüglich des Präsidentenamts höre ich. Darunter auch eine jüdische Familie, die fest davon überzeugt ist, dass Rabinovicz Präsident werden sollte. <Wir sind so glücklich, dass er kandidiert.> haben sie mir begeistert erzählt. – Poroshenko hat vermutlich in der Ostukraine kaum Unterstützung, ebenso wie Klitschko.“ sagt sie. Ich äußere meine Bedenken, dass sich bei der Fülle der Kandidaten kein klares Bild ergeben kann. „Genau.“ sagt sie. „Und dann ist das Ende vom Lied, dass wieder jemand von der Partei der Regionen an die Macht kommt. Ich weiß noch gar nicht, wen ich wählen werde. Ich denke, ich werde Olga Bogomolets unterstützen. Und ich denke, der Kandidat der Ostukraine wird Tigipko sein. Er hat ja schon mal kandidiert. Wenn bloß Julchen nicht an die Macht kommt! Eigentlich dürfte sie ja nach ihrem peinlichen Auftritt auf dem Maidan kaum Stimmen erhalten, zumal sie sich auf ihren früheren Posten das Vertrauen des Volkes gründlich verscherzt hat. Doch bei ihr kann man ja nie wissen.

Aber wer weiß, was sich bis Ende Mai noch alles verändert. Und es kann gut sein, dass Putin die Wahl noch stören wird.“ Und dann erklärt sie mir, warum so viele jetzt für das Präsidentenamt kandidieren: „In der Periode vor der Wahl genießen sie Immunität. Niemand kann gegen sie ein Strafverfahren eröffnen, keiner kann ihnen ihr Konto sperren, sie dürfen reisen, wohin sie wollen. Da ist doch klar, dass bestimmte Leute das nützen wollen, um ihre Schäfchen aufs Trockene zu bringen.“ – “Arme Ukraine!” denke ich. Gibt es denn keinen Weg, um aus diesem ganzen Filz herauszukommen? Die Bürger hatten doch so viel erreicht! Sollte das wirklich im Sande verlaufen?

„Manche rechnen sich anhand der Nachrichtenlage aus, dass bald noch etwas Schlimmes passieren wird. Wahrscheinlich zu den Maifeiertagen.“ sagt sie bedrückt. „Bei uns im Kindergarten sind übrigens jetzt schon drei Flüchtlingskinder von der Krim. Und es wird diese Tage eine ungelernte Kraft von dort als Aushilfe eingestellt.“

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1 Response to Charis Haska: So unterschiedliche Meinungen!

  1. justice says:

    In diesem Artikel kommen viele Ängste und Hoffnungen zum Vorschein.

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