Charis Haska: Dieser Tag hat sich über weite Strecken belanglos und friedlich angefühlt
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Dieser Tag hat sich über weite Strecken belanglos und friedlich angefühlt. Nach dem regnerischen Morgen hat die Frühlingssonne die Innenstadt mit ausdrucksstarken, warmen Farben wunderschön und romantisch erstrahlen lassenw. Zum ersten Mal seit langer Zeit haben Ralf und ich uns einen Ausflug zum Businesslunch in einem stilvollen Lokal gegönnt. So unbefangen, wie im Sommer 2009, konnte ich die Atmosphäre dort allerdings nicht genießen. Unterschwellig nagte der Gedanke: Wen unterstütze ich damit?
Ralf entdeckte beim Businesslunch, dass ein fremder Ukrainer ihm auf seine Facebookpinnwand einen aggressiven Text mit Forderungen des Maidans an “die deutschen Partner” gepostet hatte. Den selben Text fand ich später als Kommentar zu meinem Eintrag von heute morgen. Die Person hatte mir zugleich eine Freundschaftsanfrage geschickt. Ich habe keine Lust, diese Anfrage positiv zu beantworten. Ist auch egal, der Typ hat mich schon abonniert… Nicht, dass ich alles generell abstreiten möchte, was in seinem Text steht. Aber ich empfinde ihn als beleidigend. Und bin überzeugt, dass er nur eine Meinung von vielen wiedergibt. Auch wenn ich in verschiedenen Gesprächen mit den Menschen um mich herum auch wirklich viel Enttäuschung über die laschen Reaktionen der EU höre.
Auf dem Rückweg machten wir einen Abstecher in das Firmengeschäft von Roshen. Ich bin süchtig nach Petro Poroshenkos Süßigkeiten und der Meinung, dass seine Schokolade nicht nur Milka sondern auch jede Schweizer Schokolade bei weitem übertrifft. Auch hierin sind die Ukrainer meiner Meinung nach die besseren Europäer.
Die Roshen- Band, die Ralf heute gerne filmen wollte – eine Band aus fast lebensgroßen Puppen, die normalerweise jede Viertelstunde eine lebendige Vorstellung mit mitreißenden ukrainischen Volksliedern gibt und sich am Ende aufs Höflichste für unsere Aufmerksamkeit bedankt – war allerdings “auf Tournee”, wie uns eine der Verkäuferinnen erklärte.
An der Kasse musste ich unwillkürlich an die Beobachtung meiner Freundin denken, dass man in den Geschäften seit dem Maidan mehr Ukrainisch hört und das oft mit den Worten “Vilna Kassa” (das heißt:
F r e i e Kasse) eingeleitet wird. Denn die Kassiererin blieb konsequent beim Ukrainisch, obwohl ich ihr mangels Sprachpraxis auf Russisch antwortete. Ich kratzte meine gesammelten Ukrainischkenntnisse zusammen und verabschiedete mich mit “Djakuju” (Danke) und “Do Pobaczenja” (Auf Wiedersehen). Und war sogar ein kleines bisschen stolz darauf. Wie eine kalte Dusche erwischte aber sogleich mich ein klitzekleines Erlebnis am Ausgang. Ralf hatte beschlossen, an der frischen Luft auf mich zu warten. Er hatte sich auf einer der schönen Bänke vor dem Geschäft niedergelassen. Ich erspähte ihn dort und nahm nur nebenbei wahr, dass ein das Geschäft betretender Kunde mir die Tür weit offen hielt, statt selber hinein zu stürmen. Ich steuerte auf Ralf zu, da rief der Kunde mir böse nach: “Djakuju, Djewka!” – “Danke, Frollein!” Ob er damit nur meine Unachtsamkeit moniert hatte, oder meine blau-gelbe Schleife? Ich weiß es nicht und schämte mich meiner Unhöflichkeit.
Heute hatte ich das Gefühl, dass in der Mittagszeit fast so viele Autos in der Luteranska waren, wie früher. Beim Hundespaziergang hab ich mich an den fröhlich lachenden Grundschülertn gefreut. Ich hab die Cellolehrerin aus unserer Musikschule getroffen, die mir strahlend erzählte, einer ihrer Schüler habe neulich beim Musikwettbewerb den vierten Platz belegt. Längeres Gespräch mit den üblichen Höflichkeiten und Belanglosigkeiten.
So ein schöner Tag!
Irgendjemand äußert die leise Befürchtung, es könne morgen zu schweren Auseinandersetzungen kommen. Die hatte ich schon für heute befürchtet und war im Lauf des Tages zu der Überzeugung gelangt, dass ich mir vielleicht ja alles nur eingebildet haben könnte und ich einfach wochenlang auf dem Mond gelebt hätte. Sofort krampft sich in mir alles zusammen, ich spüre tiefes Unbehagen, vor allem körperlich.
Morgen um 10.00 Uhr ist eine wichtige Sitzung der Werchhovna Rada (d.h. des Parlaments). Um 9.00 Uhr wollen sich Demonstranten sammeln., um dahin zu ziehen. In einer richtigen Demokratie hätten die Bürger die Möglichkeit, ihre gewählten Abgeordneten zu instruieren, wofür sie stimmen sollen. Ich wünsche diesem Land eine richtige, funktionierende Demokratie, d. h. eine Volksherrschaft, in der die Bedürfnisse der Bürger an erster Stelle stehen.
Bitte betet, dass dieses Land einen guten Weg findet! Bitte betet für die vielen Enttäuschten, Erschöpften, Verzweifelten! Bitte betet darum, dass die enormen Ressourcen an Friedfertigkeit und Liebe, die wir bisher von den Ukrainern um uns her kennen, noch lange nicht aufgebraucht sind, sondern nachwachsen!
