Jörg Drescher: Was geht mich die Ukrainische Revolution an?

Ob ich nun in der Ukraine lebe, ob in Kiew, in Lwiw, Iwano-Frankowsk, Ternopil, Odessa, Sewastopol, Donezk, in einem ukrainischen Dorf oder irgendwo in der EU, in den USA, Kanada oder einem anderen Platz auf der Welt… Was geht mich die Ukrainische Revolution an?

Traue ich den Medien, die darüber berichten, handelt es sich doch um einen Machtkampf zwischen politischen oppositionellen Kräften und einem Regime, das sich, je nach Darstellung, eher der Selbstbereicherung durch Mafia-Methoden widmet, als sich an den Interessen der Bevölkerung zu orientieren. Diese politische Welt ist für mich doch so weit entfernt wie der Mars und als eigentlich unpolitischer Mensch, habe ich kaum Einfluss auf das, was dort passiert. Es geht um Personen, denen ich wohl nie persönlich begegnen werde, um zu klären, was sie wirklich bewegt.

Susanne Wiest, eine Ikone der Grundeinkommensbewegung in Deutschland, die sich politisch zu engagieren begann, stellt gerne die Frage: „Wie wollen wir zusammen leben?“ Prinzipiell ist das auch für mich die Kernfrage von Politik. Daraus formulieren sich nämlich erst Rahmenbedingungen, die dann in einem „Wie sollen wir zusammen leben“ münden.

Während in den Demokratien der Welt Personen gewählt werden, um sich mit dieser Frage zu beschäftigen, wehrt sich in der Ukraine derzeit ein Teil der Bevölkerung dagegen, was ihnen von ihren gewählten Politikern als Rahmen auferlegt wurde. Das nicht unbedingt, weil sich die politische Mehrheit der Annäherung an die EU versagten, sondern weil sie mit Knüppeln versuchte, Demonstranten gewaltsam auseinander zutreiben, die durch ihre Präsenz eine andere Meinung zum Ausdruck bringen wollten. Erst daraufhin fühlten sich mehr Menschen genötigt, eine Position einzunehmen und machten das Politische zu ihrer Sache: Aus Angst, für eine andere Meinung geschlagen zu werden, statt dass diese (andere) Meinung Gehör findet.

Für viele im Ausland ist es eine selbstverständliche Möglichkeit, auf die Straße zu gehen, um seine (andere) Meinung zum Ausdruck zu bringen. Man bekommt eher selten Prügel dafür, weshalb man für die Ukrainische Revolution Sympathien wecken kann. Weitaus weniger merken allerdings, dass sie in ihren Demokratien mit ihrer (anderen) Meinung ebenfalls selten gehört werden. Wenn es anderswo zu Polizeigewalt kommt, dann doch weniger aufgrund inhaltlichen Gründen. Wer aber ehrlich ist, muss anerkennen, dass seine Gegenmeinung genauso nicht bis kaum Anerkennung findet.

Dieser zweite Punkt ist aber Teil der Ukrainischen Revolution. Es geht um eine Art der Würde, die weit über das normale Verständnis von Würde hinausgeht. Während Würde im Allgemeinen die Anerkennung des Menschen als Menschen sieht, steht bei der Ukrainischen Revolution auch die Würdigung des Menschen im Raum, der Verantwortung für sich und sein Gemeinwesen übernehmen will. Oder anders ausgedrückt: Es ist eine tiefe und ernste demokratische Frage über Macht und Herrschaft. Damit geht die Ukrainische Revolution uns alle etwas an.

In der Vorbereitung zu einem Gespräch über Möglichkeiten, wie es nach der Revolution weitergehen könnte, entwickelte ich drei Gedanken. In der Ukraine (und prinzipiell in allen Staaten) ist das politische System gar nicht so wichtig, wenn die Positionen mit Personen besetzt werden, welche das System unterwandern. Entsprechend dachte ich an ein Kontrollorgan, das die Arbeitsergebnisse von Amtsinhabern überwacht. Die Arbeitsergebnisse sind meist Gesetze und Bestimmungen. Ein gängiges Kontrollorgan ist das Verfassungsgericht, das prüft, ob die erlassenen Gesetze und Bestimmungen juristisch mit der Verfassung übereinstimmen. Doch was juristisch zulässig ist, muss nicht zwangsläufig moralischen Kriterien entsprechen.

Daher kam mir der Wunsch nach einer Art „Ältestenrat“ als kleines Gremium, das mit vielleicht 5 Personen besetzt ist, die keine Eigeninteressen (mehr) haben und damit über eine gesellschaftliche Autorität verfügen. Aufgabe dieses Gremiums sollte sein, Gesetze und Bestimmungen anhand nichtjuristischer Kriterien öffentlich zu bewerten. Solche Kriterien sind aus meiner Sicht eigentlich im Amtseid des (ukrainischen) Präsidenten festgelegt.

Der zweite Gedanke drehte sich um Vorschläge und Ideen. Wenn nämlich irgendein Bürger für das Gemeinwesen einen Vorschlag oder eine Idee hat, sollte er eine Anlaufstelle dafür haben. Eine solche Schnittstelle halte ich für sehr wichtig, damit sich Menschen in ihren Staat einbringen können. Aber auch hier gilt, dass so etwas nur funktioniert, wenn das Engagement der Bevölkerung ernst genommen wird und reale Wirkung zeigt. So rief einmal Julia Timoschenko (in ihrer Zeit vor dem Gefängnis) die Menschen dazu auf, ihre Wünsche einzureichen, doch letztlich passierte nichts mit all den Zuschriften.

Der dritte und letzte Gedanke beschäftigte sich mit dem politischen Prozess selbst. Vor vielen Jahren nahm ich in Deutschland an einem sogenannten „Bürgerforum“ teil, wo ein „Bürgergutachten“ ausgearbeitet wurde. Davon war ich schwer beeindruckt, weil ich (als eigentlich „Niemand“) direkt gefragt wurde – und zwar nicht nach einem „ja/nein/weiß nicht“, sondern nach realen Argumenten zu einem Thema. Die Ukrainer kennen das eigentlich als „Wetsche“. Ausgeschlossen ist dabei nicht, dass es auch Expertengutachten zum Thema gibt, die neben den (dann auch öffentlich zugänglichen) Bürgergutachten bei der Entscheidungsfindung von gewählten Volksvertretern helfen können. Dies hängt allerdings stark von der Transparenz ab und ob Bürger (und Medien) ihre eigene Kontrollfunktion wahrnehmen.

Geht mich nun die Ukrainische Revolution als Ausländer etwas an? Darf ich mich überhaupt mit meinen Gedanken einmischen? Ich behaupte: Ja, denn ich verstehe diese Revolution nicht als reine Ukrainische Angelegenheit, sondern als fundamentale Infragestellung von Demokratie, bei der jeder dazu aufgerufen ist, sich zu überlegen: „Wie wollen wir zusammen leben?“ und wie dies real umgesetzt werden kann.

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