Charis Haska: Jungs schön anziehen

Charis Haska: Jungs schön anziehen

Original: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/648241201909241

Ich frage einen unserer Verletzten, ob es in der Schar seiner Enkel nicht auch einen Jungen gebe, etwa im Alter unserer eigenen Jungs und vielleicht ein wenig kleiner. Unsere eigenen Jungs sind sehr gewachsen. Wir haben sie in Deutschland günstig mit Kleidung eingedeckt, die sie sich selbst ausgesucht haben. Besonders der Jüngere trägt seine modische Kleidung mit Stolz. Wassili Stepanowitsch lächelt traurig: „Ja, wahrscheinlich gibt es in unserer Familie jemand, dem die Größe passt. Aber wann werde ich sie sehen? Sie sind ja gerade von der Krim in die Westukraine umgesiedelt. Ohne alles. Sie sind fast eine Tagereise von hier entfernt.“ Ich verstehe. Ohne alles ist es natürlich auch nicht denkbar, wegen abgetragener Kleidung eine Reise nach Kiew zu unternehmen. „Sie fangen dort völlig von vorn an und müssen sich ein neues Leben aufbauen.“ fügt er hinzu.

Der Hund zerrt mich weiter. Schulkinder begegnen mir, in adretten Schuluniformen. Dann ein Knirps, den ich im Gegenlicht erst nach und nach einordnen kann. Stolz trägt er seine Wyshiwanka, sein gesticktes ukrainisches Hemd. Und an seinem Kopf sind die rechte und linke Seite kahl geschoren, der lange, glatte blonde Schopf fällt zur Seite: Ein echter, kleiner Kosak. Wie ich mich wohl als etwa Achtjährige auf offener Straße als Einzige in Nationaltracht gefühlt hätte? Noch dazu mit einer Frisur, die erst langsam auswächst? Ich wollte damals immer gerne unauffällig bleiben…

Ich wünsche der Ukraine junge, starke, selbstbewusste Menschen, die wissen, was sie können und worauf sie stolz sein können.

Auf dem Weg zum Botanischen Garten, wo wir heute einen Morgentreffspaziergang unternehmen wollen, warte ich an der Werchhowna Rada auf den Bus. Zum Glück frage ich eine andere Wartende, die mich aufklärt, dass der Bus nicht mehr vom Podol über den Europäischen Platz und die Gruschewslkistrasse durchfährt bis zum Botanischen Garten. Bereitwillig erklärt sie mir, dass ich entweder eine Marschrutka nehmen kann und dann umsteigen, oder einfach bis zur nächsten U- Bahnstation laufen muss. Die Änderung der Buslinie ist wohl ein Relikt aus der Zeit, als der Europäische Platz noch besetzt war.

Bei dem schönen Wetter gehe ich natürlich zu Fuß weiter. Und so sehe ich neben der Werchowna Rada eine mittelgroße Demonstration, mit Pfiffen und Rufen „SEKA het!“ („Knastinsasse –weg!“)

Ja, wie weit ist dieser ehemalige Knastinsasse Janukowoitsch wirklich schon weg? „Teuer ist er uns zu stehen gekommen!“ hat mir neulich eine der Nachbarinnen auf dem Hof empört gesagt. „Und jetzt traut sich die Regierung nicht, richtig durchzugreifen. Keiner weiß, wieso. Vielleicht haben sie Angst, dass man uns dann nicht als demokratischen Staat anerkennt?“

Ich jedenfalls ärgere mich kolossal über das große, blaue Wahlplakat der Partei der Regionen. Als Slogan haben sie doch allen Ernstes gewählt: „BLOCKPOSTEN oder BRÜCKEN?“ Das reimt sich im Russischen. Diese Banditen! Ja, welche Brücken haben sie denn gebaut, außer denen, die längst mehr als überfällig waren? Und was ist aus den Straßen geworden, die anläßlich der Europameisterschaft großzügig „erneuert“ wurden? Schlaglöcher haben sie schon seit dem vergangenen Sommer, sodass es gefährlich ist, sie zu befahren. Hätte die Bevölkerung es denn nötig, Blockposten auf die Zufahrtsstraßen zu großen Städten zu stellen, wenn die Damen und Herren von der Partei auf die Forderungen des Volkes reagiert hätten? Ich hoffe bloß, dass die von den Veränderungen und Verunsicherungen ausgelaugten und übermüdeten Bürger sich von solchen nach „Ruhe und Ordnung“ klingenden Parolen nicht einlullen lassen!

Überall in der Stadt sind jetzt kleine Zelte verschiedenster Parteien mit Werbeschriften präsent. Mir selbst hat neulich Abend der Auftritt der Demokratischen Allianz sehr gefallen. Über die Straße kam eine bescheidene und sehr hübsches, etwa zwanzig jähriges Mädchen auf mich zugeeilt und drückte mir ein Flugblatt der Partei in die Hand: „Bitte unterstützen Sie Oleksander Musijenko!“ Ich sagte, dass ich als Ausländerin kein Wahlrecht habe, mir diese kleine Partei aber vernünftig erscheine. „Ja“ sagte sie. „Es sind junge und sehr kluge Leute, die etwas bewegen wollen. Oleksander Musijenko selbst ist Advokat.“ – „Und gehören Sie selber zur Partei?“ fragte ich, weil ich weiß, dass es hier durchaus üblich ist, bezahlte Plakatkleber loszuschicken. „Nein, ich bin Volontärin.“ lächelte sie mich an. Vor dem kleinen Supermarkt Lipki sah ich dann das Zelt der Demokratischen Allianz, mit zwei weiteren Aktivisten, die freundlich mit einer Passantin diskutierten. Wenn mich nicht alles täuscht – im Gehen hatte ich das Flugblatt studiert, soweit Hund und Wind es zuließen, und verstanden, dass Musijenko als Abgeordneter fürs Stadtparlament kandidiert – war einer von ihnen Musijenko selbst. So junge, ernsthafte und überzeugte Gesichter…

Da kam die junge Frau von eben atemlos angesprungen und erbat von ihren „Parteikollegen“ weitere Flugblätter. Bis ich nach Hause kam, hab ich die Eifrige noch zwei Mal getroffen. Ich konnte nicht anders, als für den Erfolg ihrer Sache zu beten. Und darum, dass sich in der Wahllandschaft nicht alles ins Unübersichtliche zersplittert.

An den Bäumen in der Luteranska hingen auch kleinere Plakate des Rechten Sektor, mit einer Einladung in eine Sprechstunde in der Luteranska 28. Ich wusste gar nicht, dass sie dort ein Büro haben. Auf dem Plakat ein eindringlicher Aufruf, etwa „Bürger, in diesen schwierigen Zeiten, wo uns keiner hilft, müssen wir selbst zur Tat schreiten!“ Ich konnte es nicht noch mal nachlesen, denn jemand hat ihre Plakate fein säuberlich von den Bäumen herunter gekratzt…

This entry was posted in "Voice" auf Deutsch, Posts - Deutsch and tagged , , , . Bookmark the permalink.

Leave a comment

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.