Charis Haska: So normal wie möglich
Quelle: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/634817916584903?stream_ref=10
Einer unserer Freunde aus Kiew schrieb heute morgen auf FB: “Und wie geht es jetzt weiter? Tschetschenien?”
Natascha sagt, dass jetzt vermehrt uniformierte Soldaten in die Kirche kommen. Sie fragen sehr interessiert nach unserer Kirche und unserem Glauben. „Ich tue mein Bestes, um ihnen alles zu erklären.“ bemerkt sie nicht ohne Stolz.
Heute früh hab ich auch einen Soldaten getroffen. Er kam aus der Bauruine von nebenan, wo er offensichtlich alle Eingänge prüfte. Erst war ich erschrocken und dachte, da sei eine neue Wachschutzfirma am Werk. Dann las ich an seinem Ärmel „Ukraina“.
Die Nachbarin mit dem jungen Hund habe ich heute dreimal gesehen, jedes Mal war sie anders gekleidet. In der Mittagszeit war ihr Outfit sehr bunt. Über einer mit großen, roten Blumen gemusterten Leggins trug sie eine leuchtendblaue Jacke. Ich sprach sie an: „Sie tragen eine schöne Zusammenstellung: Die blaue Jacke mit der gelben Einkaufstüte, dazu eine blaue Handtasche und die Geschenktüte mit dem gelben Stiefmütterchen.“ Ohne mit der Wimper zu zucken antwortete sie: „Ja, ich hatte einfach Lust auf Frühling.“ Wir schafften es auf hundert Metern gemeinsamem Heimweg völlig oberflächlich und belanglos zu plaudern, vor allem über Kochrezepte zum Osterfest. Sie ist eine gebildete Frau und hat eigentlich sonst öfters mal ihre politische Meinung ziemlich deutlich verlauten lassen.
Unsere Geigenlehrerin hat uns heute, wie jedesmal in der Stunde nach dem Prüfungskonzert, getriezt bis zum „Geht nicht mehr“. Während sie uns direkt nach dem Konzert ganz gerührt lobt, wie toll wir doch waren, bekommen wir dann in der nächsten Stunde zu hören, dass wir überhaupt nichts können und niemals Geige spielen lernen. Sie gerät dann in eine Art heiligen Zorn und energische Verzweiflung und kann sich an einer Kombination aus zwei Tönen gnadenlos zwanzig Minuten festbeißen. Auf diese Weise hat sie den Unterricht mit mir, nachdem Bernhard schon gegangen war noch bis weit nach der Öffnungszeit der Musikschule überzogen. Schließlich kam die Pförtnerin herein und bemerkte vorsichtig, alle anderen seien schon längst gegangen. Die Geigenlehrerin gab mir Instruktionen, fluchtartig das Gelände zu räumen. Im dunklen Treppenhaus wünschte ich ihr zum Abschied so etwas wie Frohe Ostern (man gratuliert hier ja zu bevorstehenden Festen) und uns allen Frieden. „Nje gawari!“ sagte sie mild, was so viel bedeutet wie „Sag lieber nichts“ oder „sag das lieber nicht“.
Die milde Luft und seltene Windstille des Tages hatte sich zu einem mittleren Dauerregen entwickelt. Ziemlich nass tappte ich in einen der kleinen Supermärkte, um Brot zu holen, konnte mich lange nicht entscheiden, welches Brot ich aus der mäßigen Auswahl nehme. Ich wunderte mich über die Musik, die getragen und mehrstimmig, fast wie ein Choral aus dem Radio klang. Ungewöhnlich! Es hörte sich so… geistlich an.
Aber irgendwie doch vertraut? Schließlich fragte ich die Kassiererin: „Was ist denn das für Musik?“ Sie überlegte auch einen Moment und antwortete dann muffig, wie immer in diesem Laden: „Das ist unsere Nationalhymne!“
Tatsächlich! Aber weil sie nicht wie sonst siegesgewiss und schmissig klang und in dieser Aufnahme die Frauenstimmen überwogen, hatte ich sie für eine Passionsmusik gehalten.
