Charis Haska: Zeitumstellung
Quelle: https://www.facebook.com/charis.haska/posts/627604507306244?stream_ref=10
Gestern Abend wollte ich Euch eigentlich schreiben: „Heute habe ich nichts Revolutions- oder Kriegsbezogenes erlebt.“ Dann habe ich aber gedacht, ich muss Eure Zeit nicht mit Banalitäten verschwenden. Hab mich beizeiten ins Bett gelegt, mit der Absicht, mein Halsweh zu kurieren. Und mich weiter auf die Sommerzeit einzustellen. Meiner Homöopathin hatte ich abends noch erzählt, dass ich zur Zeit nachts so gut schlafe.
Aber der April treibt so seine Scherze. So bin ich also um 2.30 Uhr aufgewacht und habe gefühlte zwei Stunden wachgelegen. Dabei fiel mir auf, dass der geplante, banale Satz nicht der Wahrheit entsprochen hätte. Denn meine deutsch- iranische Freundin und ich hatten bei unserem Spaziergang am Rande des Marinsky Park an mehreren Stellen auf dem Bürgersteig frische, langstielige Nelken und brennende Grablichter gesehen. Natürlich hatte ich erfahren, dass es auch dort während der Auseinandersetzungen zu Tötungen gekommen war. Doch bisher hatte ich meine Spaziergänge noch nicht so weit ausgedehnt. In der Nacht nun waren mir die Schreckensvideos wieder präsent, auf denen zu sehen war, wie Leichen ohne Köpfe dort weg getragen wurden.
Zugleich sah ich im Geiste die Fotos, die gestern veröffentlicht wurden: Sie dokumentierten, wie sich die Alpha- Truppen im Hof des SBU für die Erschießungen vom 18. bis 20. Februar rüsteten. Es war im beigefügten Text genau benannt, welche Schichten von kugelsicheren Westen und Schutzkleidung sie anlegten. Ich mochte mir gestern morgen die Bilder nicht alle anschauen, doch gleich auf dem ersten blickte einer der Männer ziemlich direkt in die Kamera. Nachts und heute Morgen musste ich immer wieder darüber nachdenken, ob die Bilder bewusst ausgerechnet zum Ablauf der klassischen orthodoxen vierzig Tage Trauerzeit an die Öffentlichkeit gegeben wurden. Um Trauer zu verarbeiten? Um Emotionen hoch zu peitschen?
Ich frage mich, wie diese Männer und ihre Mütter (und Familien) mit der Schuld zurechtkommen werden, die sie da auf sich geladen haben. Die Vorstellung, dass meine Jungs jemals an solchen Morden beteiligt sein könnten, ist schrecklich für mich. In der Nacht waren mir die Erschossenen ganz nah. Ebenso die Zeugen. Kann man so ein Trauma irgendwann zurücklassen und in den Alltag zurückfinden?
Es ist mehr als eine Zeitumstellung. Die Krim übrigens lebt jetzt nach Moskauer Zeit.
Morgens hab ich mich dann an den frisch gestrichenen Blumenkübeln vor unserer Kirche gefreut. Valera hatte für sie eine satte gelbe Farbe ausgewählt. Ich hatte ihn wissen lassen, dass mir an ihnen die blaue Farbe fehlt. Er sagte, sie waren wegen der vielen Zwischenräume so schwer zu streichen, dass er ein Überstreichen mit blauer Farbe mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben wird. Als ich heute die Straße hochkam, glaubte ich meinen n Augen nicht zu trauen: Der letzte und größte Blumenkübel leuchtete blau- gelb.
Damit lässt sich sogar der hässliche Schneeregen zum 1.April überstehen.
Ralf fand am Morgen in den Nachrichten eine Meldung, Julia Timoschenko habe auf Twitter verkündet, ihre Kandidatur für das Präsidentenamt zurückgezogen zu haben. Wir haben nach einigem Überlegen beschlossen, dies bis auf Weiteres als Aprilscherz zu verstehen.
In Odessa wird der 1. April ja groß als Tag des Humors gefeiert. Ob die Odessiten sich wohl angesichts der aktuellen Ereignisse und ihres entflammten nationalen Engagements einen besonderen Scherz einfallen lassen werden?
Gerade hat mich eine orthodoxe Freundin angerufen. Sehr betrübt. In ihrer Kirche wird intensive russische Propaganda betrieben und der Maidan in schwärzesten Farben gemalt. Sie hat eigentlich nichts gegen Russen. Aber das tut ihr total weh.
