Charis Haska: Normalität
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Unsere Kinder erzählen, dass heute an ihrer Schule am Stadtrand mehrere Hubschrauber vorbei geflogen sind. Erst haben sie einen gesehen, dann noch mal drei, und dann war der Lärm später noch von anderen zu hören, die wohl eine andere Strecke flogen.
Mittags war ich sehr überrascht. Ich hatte einen unserer deutschen Freiwilligen gefragt, ob es schon Näheres gäbe, wann er an seinen Einsatzort Charkow zurückkehren kann. Von dort war er neulich aus Sicherheitsgründen abgezogen worden. Er hat sich solange sehr bei uns bei der Versorgung des Lazaretts engagiert. Da antwortete er mir, er habe gestern eine Mitarbeiterin der Deutschen Botschaft getroffen. Sie habe ihn gefragt, warum er noch nicht wieder in Charkow sei.
Die Reisewarnung ist wohl aufgehoben.
Ich hab mich heute schlapp gefühlt und wie im falschen Film. Es fällt mir offenbar schwer, die Normalität wieder zuzulassen, wo sie sich wenigstens teilweise wieder einstellt. Und ich frage mich: Wann ist diese Normalität wirklich angemessen?
Große Freude: Der Sohn unseres Kindermädchens, ein tüchtiger Student mit besten Leistungen, durfte heute zu einem Wettbewerb zum Thema „Das Internationale Recht“ nach Warschau abreisen. Neulich hatte er zwar gesagt: „Das internationale Recht existiert doch gar nicht mehr. Putin hat es doch abgeschafft.“ Doch unser Kindermädchen freut sich und staunt: Er hat sogar ein Schengenvisum für ein Jahr bekommen. Sie kann es noch gar nicht fassen. Mit maximal einem Monat hatten sie gerechnet…
Ich habe festgestellt, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr zum Abendgebet in unserer Kirche war. Im Wesentlichen hat das mit dem kurzen und intensiven Intervall zu tun, das unsere Kinder abends erschöpft von der Ganztagsschule zu Hause bzw. beim Zeichenunterricht oder mit Musikstunden verbringen.
Aber heute habe ich mich aufgerafft und bin hingegangen. Vor der Kirche traf ich einen der Jungs von dem netten Team, das jetzt samstags immer parallel zum Kindergottesdienst eine Gruppenstunde für unsere „Podrostki“ (Teenager) anbietet. Er singt auch im Kirchenchor mit. Er sah sooo blass aus. Fragte, wie es uns geht. „Ganz gut, aber müde. Und Ihnen?“ sagte ich. „Ja, wir halten uns irgendwie…“ antwortete er.
Im Kirchsaal waren bis unmittelbar vor dem Abendgebet noch viele Leute versammelt: Die Psychologenkonferenz hatte ein Seminar durchgeführt. In meiner Kirchenbank fand ich einen vergessenen Terminkalender und gab ihn bei dem Mann ab, der mir als Leiter gezeigt wurde. Überschwänglich bedankte er sich und lächelte: „Wir kommen morgen wieder.“
Eine Zeile aus dem Gebetstext hat mich besonders angesprochen, sinngemäß: „Herr, hilf, dass wir uns zum Frieden niederlegen und zum Leben wieder aufstehen.“ Schöne Orgelmusik. Als Schlusslied „Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen…“ mit dem Vers „Die Sonne, die uns sinkt, bringt drüben den Menschen überm Meer das Licht.“
Nach dem Abendgebet kam ein langjähriges Chormitglied auf Ralf zu und ließ ihn eindringlich wissen, dass sie am Sonntag gern zum Abendmahl gekommen wäre. Das hatte aber nicht geklappt, weil nicht gut abgesprochen gewesen sei, wann der Chor am Abendmahl teilnehme. Es war abgesprochen gewesen! Davon hatten die Chormitglieder aber offensichtlich nichts gewusst. „Wissen Sie, immerzu haben wir Ärger: Mit unserer Arbeit, dann diese ganzen Ereignisse in den letzten Monaten… Und ständig bekommen wir von irgendwoher eins auf den Deckel. Da wünsche ich mir so sehr, dass wenigstens in der Kirche alles reibungslos läuft.“ beklagt sie sich dann bei mir. Und: Irgendwohin müsse man doch mit seinen Emotionen, wenn man immerfort und ein Leben lang immer wieder geduckt wird. Da könne es dann schon mal passieren, dass alles anders läuft, als abgesprochen…
In unserem Hof traf ich dann unsere Nachbarin, die mir erzählte, das Fernsehen zeige permanent Bilder von der russischen Truppenkonzentration an der ukrainischen Grenze. Ich gab ihr die heute gehörte Einschätzung unserer Deutschen Botschaft weiter, aber das beruhigte sie überhaupt nicht. „Sie müssen bloß sehen: Tschernigiv ist etwa 140 Kilometer von Kiew entfernt. Da braucht nur einer loszuballern, und dann ist der Krieg ganz schnell in Kiew…“

Liebe Grüße aus Berlin an Ihre werte Frau Nachbarin:
“Dass Russland der Ukraine ihr betagtes U-Boot klaut, lässt auf einige Defizite schließen.”